Donnerstag, 7. Februar 2013

Geh mir doch weg XXIV: In der Karnevalsvorhölle

Er hatte an nichts Schlimmes gedacht. Genau genommen hatte er an gar nichts gedacht. Leere im Kopf. Angenehmes Gefühl. Peter Wunderlich gähnte. An der Leine aus echtem Elchleder ruckte und zuckte es. Ische ackerte die Zeitung durch. Aufgeregt. Hibbelig. Wie jeden Morgen. Wer hatte wo eine Duftmarke hinterlassen? Wer hatte was weggeworfen - und war das vielleicht noch genießbar? Sind die Karnickel zuhause oder schon auf Trebe? Wenn man mit Hunden Gassi geht, dann ist das für sie wie Zeitung lesen. Hatte er mal irgendwo gehört. Das Neueste aus dem Viertel in fünfzehn Minuten. Mit feuchter Nase und offenen Ohren in kürzester Zeit auf dem neuesten Stand. Morgentoilette mit allem Pipapo.


Peter war noch verpennt. Auch mental. Gähnte herzhaft. War arglos. Er hatte leidlich gut geschlafen. Hatte einfach zu viel geackert in letzter Zeit. Und trat in das Krankenhauscafé, wo er noch schnell seine geistige Verpflegung holen wollte. Tageszeitung, Wochenzeitung, Fachmagazin. Na gut, Fußball-Zeitschrift. Er öffnete die Tür und es traf ihn völlig unerwartet:

"Denn wenn et Trömmelche jeiht, dann stonn mer all parat, un mer trekken durch de Stadt, un jeder hätt jesaht..."

Auf einmal sah er die Luftschlangen. Das Konfetti auf dem Boden. Die violette Perücke der eigentlich recht hübschen Kellnerin. Den alten Mann im Morgenmantel, der auf seinem Handrücken zwischen zwei Pflasterstreifen eine Infusionskanüle spazieren führte und der in der Nase Schläuche hatte, der aber gleichwohl auch - wie selbstverständlich - eine rote Plastiknase trug. Herrje. Weiberfastnacht. Hatte er erfolgreich verdrängt. Konnte man in Westfalen ja gut. Wer nicht mitmachen wollte, brauchte auch nicht mitzumachen. 

Das war vor Jahren ganz anders gewesen, als er noch in Köln gelebt hatte. Wer da nicht mitmachte, tat gut daran, die Stadt zu verlassen. In Köln war es definitiv nicht möglich, dem Karneval zu entkommen und gleichzeitig da zu bleiben. Jeder, aber wirklich jeder, war kostümiert. Und aufdringlich gut gelaunt. Und ausgelassen. Und fröhlich. Eine Stimmungslage, die bei vielen Rheinländern ohnehin genetisch bedingt scheint. Kein Gerücht. Trotzdem hatte es Peter als Westfale in Köln insgesamt erstaunlich gut gefallen. Sogar an Karneval. Dabei hatte er es eigentlich gar nicht so mit den Pappnasen, den Herrensitzungen und der Zwangs-Schunkelei zu schlimmer Schlagermusik. Aber, das musste er zugeben, der Karneval in Köln war echt. War irgendwie, nunja, authentisch. Die Menschen waren wirklich fröhlich, freuten sich unbändig auf die angeblich so tollen Tage und konnten diese ganzen Sorgen, Ängste und Nöte mal vergessen - und feierten, bis die Schwarte krachte. Vom Kleinkind bis zum Greis, alles in närrischem Aufruhr.
"Dann weed d´r Aap jemaaht,
egal, wat et och koss.
De Oma jeht nom Pfandhuus,
versetzt et letzte Stöck,
denn d´r Fastelovendes für sie et jrößte Jlöck."
  

Aber heute? Hier? In der tiefsten Provinz Westfalens? Also bitte. Nicht doch. Peter beeilte sich, seine Presseerzeugnisse zu bezahlen. Ische jippste aufgeregt, hatte die leckeren Frikadellen in der Auslage an der Kasse längst in der Nase. "Gibt nix," murmelte Peter, und steckte das Klimpergeld in die Hosentasche, "du hast zu Hause alles, was du brauchst". Er meinte die Hündin. Er meinte das Trockenfutter. Doch seine Gedanken machten mal wieder, was sie wollten: "Stimmt das eigentlich? Habe ich zu Hause auch alles, was ich brauche?". Peter wollte darüber nicht nachdenken, nicht hier, nicht zu diesem Soundtrack. Er sehnte sich nach der wattigen Leere im Kopf, die ihn eben noch entgegen der Unbill des Lebens in ihre warmen Arme geschlossen hatte.  
"Denn wenn et Trömmelche jeiht, dann stonn mer all parat, un mer trekken durch de Stadt, un jeder hätt jesaht: Kölle Alaaf Alaaf, Kölle Alaaf!"

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Der Alte rülpste hörbar. Hielt, viel zu spät, die faltige Hand vor den Mund. Seine Begleitung, ein hübsches, sichtbar großflächig tätowiertes Ding Ende Zwanzig, rümpfte die Nase und flüsterte "Mensch, Oppa, das geht auch leiser!". Leiser geht immer, dachte Peter, als er die Tür des Cafés öffnete und ins Leben zurückkehrte. Über ein Kostüm hatte er sich derweil immer noch keine Gedanken gemacht, obwohl er am Samstag zu einer Karnevalsparty eingeladen war, zu der er auch hinzugehen gedachte. "Ist ja auch egal", dachte Peter, "gehe ich eben als Mann mit Hund. Das muss reichen."





(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2013)


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