Sonntag, 2. Dezember 2012

Geh mir doch weg XVIII: Auf einer Arschbacke


„Danke für Dasein, Kommen und Bleiben.“ Die Danksagung war fertig. Aber Zweifel blieben. Müsste es nicht vielmehr „Danke für Kommen, Dasein und Bleiben“ heißen? Wie konnte man da sein und bleiben, ohne vorher zu kommen? Doch Peter Wunderlich fand es stimmig. Und sinnig. Ging ja um viel mehr, als einfach nur um bloße Anwesenheit. „Danke für Dasein, Kommen und Bleiben.“ Basta. Die Wahrheit Zwanzig12 war endlich fertig. Ein Doppelalbum, mal wieder. Knapp 144 Minuten Musik. 40 Stücke. 'Zeilendisziplin war wirklich noch nie meine Stärke', dachte Peter und schubberte sich den Fünf-Tage-Bart. Ische jippste im Schlaf. Ihre Pfoten zuckten. „Na, kleines Mädchen. Widder auf Kaninchenjagd?“, wisperte Peter. Weniger um seine Hündin, die sich auf seinem Ex-Sofa breit gemacht hatte, nicht zu wecken als vielmehr, um nicht noch mehr Unruhe im Haus zu verbreiten als ohnehin schon. 4Uhr33 zeigte die Digitaluhr auf seinem Schreibtisch.  Komisch, dachte Peter. Gute Alben werden nachts geboren. Ist wie mit Kindern und Examensarbeiten. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Das Abmischen war immer der schwierigste Akt bei diesen modernen Mixtapes auf CD. Die Reihenfolge der Songs. Der Spannungsbogen. Ein paar Überraschungsmomente. Eine gute Bridge zwischen englischen und deutschen Titeln. Doch immer, wenn er mit seinem neuesten Album fertig war, kam die nächste Hürde, die ihn - und nicht zuletzt seinen Drucker - an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Das Artwork. Welche Bilder wollte er verwenden und warum? Wobei sich die Frage nach dem 'Warum' zumeist gar nicht wirklich stellte. Peter ging dann die Fotos des Jahres durch, die schon seit langem aus dem Handy und der Digitalkamera und nicht mehr aus seiner Spiegelreflexkamera kamen, in der zwar immer ein Schwarz-Weißfilm (Ilford, 400 Asa) eingelegt war, die er aber nur noch ganz selten und nur noch zu besonderen Anlässen zückte. 36 Aufnahmen. Und dann Feierabend. Unwiderruflich. Dann ab zur Entwicklung, drei Tage warten, erwartungsvoll den Umschlag öffnen - und enttäuscht sein, dass nur drei oder vier Fotos wirklich seinen Ansprüchen genügten.

Ja, die analoge Fotographie war anachronistisch. Aber irgendwie auch großartig. Doch seit es immer schwieriger geworden war, Filme und Entwicklungslabore für Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu finden, hatte Peter sein Hobby fast ganz auf digitale Schnappschüsse beschränkt. Diese neuen Smartphones machten aber auch wirklich gute Bilder. Und es war so einfach, die weiter zu bearbeiten und anzupassen. Und auf Facebook in die Welt hinauszuposaunen. Aber war das eigentlich der Sinn der Fotographie? War die Bedächtigkeit, die Achtsamkeit, mit denen er und seine uralte Canon-Spiegelreflex (AE 1 Programm) auf Motivsuche ging und hernach das spannende Warten auf die entwickelten Fotos und den Kontaktabzug nicht das wesentlich größere Gut? Sicher, das war es. Aber im Alltag seine Knipse irgendwie immer dabei zu haben, um auch seltene Momente festhalten zu können, war auch nicht so schlecht. Da hielt es Peter wie mit der Musik. Digitale Mucke aus dem iPod war für unterwegs völlig in Ordnung. Wie Radio-Mucke. 'Wegwerf-Pop' nannte Peter das. Aber bewusst und voller Befriedigung hörte er Musik eigentlich nur, wenn er eine Nadel in die Rille setzen konnte und nach zwanzig Minuten die Platte umdrehen musste. 

Ja, Peter war altmodisch. Retro durch Zufall. Oder aus Überzeugung? Egal. Kleinbildfilm. Vinyl-Schallplatten. Hardcover-Bücher. Hätte er das nötige Kleingeld in der Tasche gehabt, er würde 'Die Wahrheit' längst nur noch als kleine Auflage in Vinyl pressen. Er wusste, dass das sein Kumpel Rüdiger, mit dem er früher zusammen Schallplatten verkauft hatte, mal gemacht hatte. Mit einem Bootleg von Bob Dylan. Dass sogar der damalige A&R-Manager der deutschen Plattenfirma Dylans gekauft hatte. Er wusste deshalb auch, dass 500 die kleinstmögliche Auflage war, dass die guten Presswerke in Tschechien standen und dass das zwischen 6 und 8 Euro pro Stück kosten würde. Falls die Tschechen in ihrem Presswerk nicht längst die Preise deutlich erhöht hatten. Vinyl war ja mittlerweile längst ein Sammlerobjekt geworden, für das Höchstpreise gefordert und gezahlt wurde. Er wusste aber auch, dass er sich damit dann so richtig strafbar machen würde. Er hatte schließlich weder die Rechte an den Stücken, noch die Genehmigung zur Vervielfältigung und schon mal gar nicht zur Fertigung von Tonträgern mit diesen Stücken. Und dass Rüdiger seit seiner Expedition ins Bootleg-Land der unendlichen Möglichkeiten auf der Flucht vor den Häschern der Gema war, war auch kein Geheimnis. Also lieber weiter das private Presswerk aus dem Hause Philips ackern lassen. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Er hatte die sieben Fotos mittlerweile ausgewählt. Ging dann doch erstaunlich schnell. Credits und Tracklisting waren auch fertig. Jetzt also nur noch kopieren und brennen. Peter und seine Freunde hatten schon vor Jahren aufgehört, sich an Weihnachten gegenseitig zu beschenken. Wurde halt nicht leichter, wenn man sich 30 und mehr Jahre kannte. Aber Peter konnte es natürlich auch nicht lassen, ihnen zumindest 'Die Wahrheit' unter den Baum zu legen. Um keine Gegengeschenke zu provozieren nannte er diese CDs einfach seine „Jahresgaben“. Oder „Jahresendtonträger“. Nix mit Fest der Liebe und so. Höchstens ein kleines Mitbringsel zum 3. Weihnachtstag, den sie in kleinem Kreis gern am 27. Dezember feierten. Mit Angrillen, draußen unterm Carport rumlungern und behandschuht Bier trinken. Und für die Frauen gab's Glühwein im beheizten Huckehäuschen. 


Der Funkwecker zeigte in blutroten Ziffern 05Uhr05 und er wollte, dass die CD so schnell wie möglich rausging. Um rechtzeitig anzukommen. Schließlich hatte Walter am 4. Dezember Geburtstag und da konnte so ein bisschen Wahrheit ja wohl nicht schaden. 29 Tage zu früh fertig geworden, dachte Peter und war mit sich zufrieden. Jetzt konnte das Jahr in Ruhe ausklingen. Peter war froh, dass es jetzt fast vorbei war. Er hatte definitiv schon bessere Jahre gesehen. 'Die letzten vier Wochen sitze ich doch auf einer Arschbacke ab', dachte Peter, als er das Päckchen mit der Aufschrift "Die Wahrheit inside" zum Briefkasten brachte. Derweil tropfte es im Keller längst wieder aus der Wand.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


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