Montag, 22. Oktober 2012

Geh mir doch weg III: Im Netz

Er hatte sich lange nicht mehr so gut gefühlt. So voller Energie. Seine Haarwurzeln kribbelten. Alle Synapsen auf Empfang. Peter Wunderlich sirrte nachgerade. Er schloss sein Büro auf, er war der Erste - wie so oft. Ja, es lief gut. Gut? Ach, was, es lief blendend! Uni-Abschluss mit Bestnote. Nach dem Einstiegsjob in der absurd boomenden Neue-Medien-Produktions-Firma mit dem grotesk misslungenen Namen "42" dann zum exakt richtigen Zeitpunkt wieder ausgestiegen und sofort die eigene kleine Internet-Agentur gegründet. Die lief direkt so gut, dass er mit seinen beiden Mitgründern eigentlich schon nach dem ersten Halbjahr nur noch halbtags arbeiten musste - dafür aber doppelt so viel verdiente, wie er zuvor als Angestellter bekam. Zwischennetz, du gottverdammtes Paradies! 

Dann der Wechsel in die Champions League. Global Player! Europas größter Web-Konzern. Führungsverantwortung! Stock Options! Die wollten ihn. Was ihn gleichermaßen wunderte und bauchpinselte. Die wollten ihn. Unbedingt ihn. Und nur ihn. Hatten einen Headhunter auf ihn angesetzt. Ein gutes Gefühl. Nicht so wie früher im Wilden Westen. Peter Wunderlich fühlte sich, ja, wie eigentlich? Wichtig? Begehrt? Beides! Mit Ausrufezeichen! In Versalien. BEIDES! Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben. Wichtig und begehrt. Er genoss dieses ungewohnte Gefühl, das ihn geradezu überflutete, überschwemmte, das ihn gänzlich erfüllte und pitschnass zurückließ. Jede Zelle, jede Faser, jede Pore seiner sterblichen Hülle angereichert mit Selbstbestätigung. Mit Ermutigung. Ach, dachte er, so fühlt sich das also an? Wenn man ein Jemand ist?

Er ließ sich nach einigem taktischen Zögern und schlecht gespieltem Zaudern aus seiner eigenen Firma herauskaufen. Für ne hübsche Summe. Aber sein 'Ja' zu Yawp, dieser Internet-Großmacht vom Dorf, die sich mit cleveren Aktien-Deals und gerissenen Managern weltweit einen Namen gemacht hatten, diese Entscheidung hatte nichts mit Geld zu tun. Sagte Peter Wunderlich. Und glaubte sich manchmal sogar selbst. Es ging nicht um Geld. Schnöder Mammon! Es ging ihm um die neue Herausforderung. Darum, mal an den ganz großen Rädern zu drehen. Mal oben mitzuspielen. Nicht immer nur im gesicherten Mittelfeld rumzuknickern. Mal aufsteigen zu können. Meister werden! Geld? Eine Fußnote. Wenn überhaupt.

(Bild gefunden auf und verlinkt mit:
16v.net/)
Der 16 Jahre alte Golf passte nicht nun mehr so richtig zu seinen italienischen Anzügen. Und zu seiner neuen 4-Zimmer-Wohnung im Südviertel, die er zwei Wochen nach Dienstantritt vom Handgeld der Yawper gekauft und angezahlt hatte. Es fiel ihm zwar alles andere als leicht, seine ebenso geliebte wie versiffte 2-Zimmer-Studentenbude am Hafen aufzugeben, aber das musste ja sein. Klar, er hing an der Bude. Genauso wie an seinem Auto.

Hey, sie waren 16 Jahre zusammen! So lange hatte er es noch mit keiner Frau ausgehalten. Und sein Golf war definitiv treuer als manche seiner Freundinnen. Deutlich. Aber das Auto passte jetzt einfach nicht mehr zu ihm. 50 PS? Rot? Wie der 83er Golf schon auf dem Firmenparkplatz wirkte! Das feuerrote Spielmobil neben funkgesteuerten Rennwagen. Neben diesen unzähligen schwarzen Limousinen und dunkelgrünen Sportwagen. Und weißen Cabrios. Nein, das ging nicht mehr. 
Das musste jetzt schon ein bisschen angemessener sein, seriöser, sportlicher. Schade um den Wagen. Aber wie hatte seine Omma immer gesagt: Wenn das Leben wächst, musst du dich groß machen - auch wenn du dich klein fühlst. 

Er dachte an etwas Adäquates. Ein Viertürer, auf jeden Fall. Da konnte man einfach mal hinten die Jacke auf den Sitz werfen, ohne dass einem gleich die Bandscheibe raushüpft. Großer Motor, klar. Sechs Gänge. Vier Türen. Beheizbare Sitze. Tempomat. Der pure Luxus. Luxus? Ach, darum ging es ihm ja gar nicht. Er pendelte schließlich jeden Tag zur Arbeit. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück. Verbrachte also einiges an Lebenszeit in dem Wagen. Es sollte also ein sicheres Auto sein. Ja, vor allem das: sicher. Er wollte sich schließlich nicht totfahren auf dieser nervigen Landstraße. Wollte nicht irgendwann vor einem dieser gottverdammten Trecker hängen oder von einem Mähdrescher geschreddert werden. Und Sicherheit kostet eben. Und das tiefergelegte Fahrwerk auch. Und die Leichtmetallfelgen. Und die Niederquerschnittreifen. Und die Soundanlage. Und die beheizbaren Waschdüsen für die Scheinwerfer. 

Soviel Geld hatte er noch nie für ein Auto ausgegeben. Ach was, soviel Geld hatte er noch nie besessen. Gut, es war immer noch ein Golf. Nur ein Golf. Peter Wunderlich meinte wirklich, das sei gleichbedeutend mit Bodenhaftung. Wieso?, sagte er oft, wenn alte Freunde mit hochgezogener Augenbraue fragten, ob das neue Auto denn nicht ein bisschen "protzig" sei, irgendwie "übertrieben". Wieso, fragte Peter Wunderlich dann mit gespielter Naivität, ist doch immer noch ein Volkswagen. Sogar ein Golf. Ich fahre doch keinen Mercedes oder BMW oder - gottbewahre - Audi, wie diese schwachköpfigen Yuppies! Hatte er wirklich Yuppie gesagt? Mein Gott, das war echt Neunziger. Und diese Neunziger waren definitiv seine Zeit. Wie für ihn gemacht. 

Peter Wunderlich startete so richtig durch. Eben noch Student, jetzt schon in leitender Funktion im mittleren Management, Eigentumswohnung (4 Zimmer), Golf TDI, 1,9 Liter, 131 PS (4 Türen), ein Haufen neuer Klamotten, natürlich nix von der Stange. Vier Zimmer? Vier Türen? Ganz schön viel Platz. Na ja, so viel nun auch wieder nicht. Genau genommen waren das auch nur zwei Zimmer und zwei Türen für ihn und zwei Zimmer und zwei Türen für Antje. Fünf Jahre waren sie nun schon zusammen. Höchste Zeit, die Haushalte zusammenzulegen. Meinte zumindest Antje. Alles andere sei Unfug, rein wirtschaftlich betrachtet. Und sie hatten ja beide wirklich lang genug in ihren winzigen 2-Zimmer-Wohnungen gehaust. Da durfte es jetzt, wo es lief, ja wohl durchaus mal ein Zimmer und eine Tür mehr sein, oder? Ein klares Ja. Natürlich. Das durfte es. Lief doch. Das Leben wuchs, und Peter Wunderlich machte sich groß. Er hatte sich lange nicht mehr so gut gefühlt.


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)

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