Freitag, 26. Oktober 2012

Geh mir doch weg V: Zwei Frauen

Ach, so fühlt sich das an, dachte Peter Wunderlich. Er war platt. Frisch verliebt, aber sowas von. Himmel! Volle Lotte verknallt. Einfach so, zack! Sie hieß Bettina. Sie kannten sich schon lange. Sechs Semester, um genau zu sein. Sie war ihm zwar schon an der Uni sofort aufgefallen, aber er hatte nicht gedacht, dass sie ihn auch gut finden würde. Kurze Haare, freche Klappe, schöne Augen und richtig was in der Bluse. An der Uni hatten sie sich zwar mal aus dem Augenwinkel gesehen, im Proseminar 'Neofaschismus in Europa - die neue Rechte' von Professorin Helga Pastor, aber das war halt nur so ein harmloser Augenflirt ohne Folgen. Zudem war Peter Wunderlich immer viel zu sehr mit dieser scharfen Professorin beschäftigt. Solche Frauen kannte er aus dem Sauerland nicht. Kurze blonde Haare, knallroter Lippenstift, kajal-geschwängerte Augen, nachlässig gekleidet. Immer war der Rock knittrig, fehlte an der Weste ein Knopf oder die Seidenstrümpfe hatten eine Laufmasche. Wenn Peter Wunderlich auf ältere Frauen gestanden hätte, wäre Helga Pastor definitiv seine Beute geworden. Aber Peter Wunderlich war gar nicht auf der Jagd. Er war in sicheren Händen. Vergeben. Seit Anbeginn der Zeit, also seit der Pubertät.

Foto (c): Thomas Ottensmann
Mit vierzehn hatte er Petra kennengelernt. Im Tanzkurs, ganz klassisch. 1978 lernte man den Saturday Night Fever. Sogar im Sauerland. Er hatte damals immer den schwulen Tanzlehrer nachgeäfft und die Augen verdreht. Bei Rolle-Rolle, Sei-ten-schritt. Petra musste lachen. Sie war als Altschülerin da. Wegen Frauenmangels hatte der Tanzlehrer seine Lieblingsschülerinnen gebeten doch als Substitutinnen anwesend zu sein. Damit die Blagen endlich die richtige Schrittfolge kapierten. Und damit sie nicht ohne Kontakt zum anderen Geschlecht durch den Kurs mussten. Petra hatte ganze Arbeit geleistet. Und dem kleinen Peter, der sie immer so zum Lachen brachte, die richtigen Schritte beigebracht. Und ein halbes Jahr später dann noch ganz andere Sachen, von denen Peter Wunderlich bis dato nur aus der Bravo wusste. Ja, es war ein Segen, als Vierzehnjähriger eine Freundin zu haben. Nicht nur eine Freundin, sondern eine, die älter war. Petra war schon 16. Und nicht prüde. Alles andere als prüde. Holla! Und da es auf dem Sofa, in Landschulheimbetten und im Zelt auch bestens lief, blieben Peter und Petra zusammen. Einfach so. Gegen jede Vernunft. Weil es so einfach war. So harmonisch. Gestritten hatten sie sich nie. Gab einfach keinen Grund. Es war schön. Es war perfekt. Es war nahtlos. Von der Mutter zur Freundin. Fertig. Das  war's. Abitur, Bundeswehr, Studium - neuneinhalb Jahre immer nur die eine Freundin. Es gab Peter Wunderlich viel. Sicherheit. Struktur. Ordnung. 

Aber jetzt sehnte er sich auf einmal nach Chaos, Freiheit und Abenteuer. Er wollte raus aus seinem alten Leben. Nicht mehr am Wochenende nach Hause, ins Sauerland, in dieses öde Kaff zu den Eltern und der Freundin pendeln. Er wollte auch mal die Samstage und - davor hatte er ein bisschen Angst - die Sonntage in Münster verbringen. Diese Stadt, die ihm immer noch ein bisschen fremd und, ja, auch unheimlich war, schien noch so viel mehr zu bieten, als sie ihm von von Montag bis Freitag offenbarte. Er brauchte eine Fluchthelferin. Bettina schien dafür genau die Richtige. Sie verstanden sich schon lange gut, als Freunde. Sie sahen sich fast jeden Tag, nicht nur an der Uni, sondern zuhause. Ihre beiden WGs waren verbandelt. Durch Jenny und Caspar, die seit sechs Wochen zusammen waren. Peter wohnte seit dem ersten Semester mit Caspar und Vroni zusammen. Ralph und Vroni hatten zusammen mit Bettina in Essen Abi gemacht. Und jetzt war Caspar mit Jenny zusammen, die mit Bettina und Michael in einer WG im Kreuzviertel wohnte. Von da ins Hansaviertel war es nur ein Katzensprung. Also sprangen die Katzen munter hin und her. Aber jetzt war alles anders. Bettina war über Nacht geblieben und hatte sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie Peter auch zwischenmenschlich, nun ja, sehr wertschätzte. Und für Peter war klar, dass diese Nacht der Anfang von etwas ganz Besonderem war. 

Sie waren erst durch die Kneipen und Clubs gezogen, um sich vom Studium abzulenken. Im Can-Can, der angesagtesten Disco hatten sie Tequilla wie Wasser gesoffen und Bettina hatte ihn angestiftet, den Salzstreuer mitgehen zu lassen. Er hatte gehorcht. Dann waren sie Fritten essen gegangen, um schnurstracks in seinen Kinostühlen zu landen, die seit Urzeiten in seiner Studentenbude standen. Von den Kinostühlen bis in sein Bett waren es anderthalb Meter. War zu packen. Sie hatten viereinhalb Minuten gebraucht. Die Rolladen runtergelassen und die Vorlesung Vorlesung sein lassen. Das Leben war schön. Die Sonne ging auf. Und Peter Wunderlich wurde klar: Ich habe ein Problem. Zwei Frauen.


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