Mittwoch, 31. Oktober 2012

Geh mir doch weg IX: Halbe Ewigkeit

Peter Wunderlich war frustriert. Denken bringt Unglück. Er hatte sich endlich mal wieder neue Platten geholt. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit.


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

War voller Vorfreude nach Hause gefahren und wollte endlich mal wieder die Regler richtig hoch reißen. Die neue Seeed! Mannmannmann. Erstes Album seit sieben Jahren. Wie es sich gehört auf Vinyl. Er war gespannt. Die erste Single hatte ihn nicht gerade umgehauen. Ganz nett, aber flach. Auch das Video, das als groß angekündigte Weltpremiere im Ersten lief, war enttäuschend. So ist das, wenn man auf etwas sehr lange gewartet hat, dachte Peter, erst wird man heiß gemacht und muss dann schnell enttäuscht feststellen, dass die Vorfreude vielleicht das Beste an dem Ganzen gewesen ist. Aber die zweite Single war gottseidank auf Deutsch. Und man konnte Peter Fox deutlich raushören. Jaaaa, das ging gut los. Mächtig nach vorne. Zentnerschwere Bässe. Mörder-Groove. Fein. Und jetzt das Album. Hoffentlich keine Enttäuschung. Und nicht zu kurz. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Er hatte vor zwei Tagen das neue Album von Rickie Lee Jones endlich per Luftpost aus den Staaten bekommen. Er stand ja auf die Ex von Tom Waits. Hatte sie zweimal live gesehen und war immer noch fasziniert von dieser Stimme. Dieser Virtuosität. Dieser Laszivität. Noch eine -tät? Bestimmt, aber ihm fiel keine mehr ein. Aber er war auch skeptisch gewesen. Nur Cover-Versionen? Keine neuen eigenen Songs? Warum? Sicher, er schätzte Cover-Versionen. Zumindest wenn sie dem Original irgendwas entgegenzusetzen hatten. Am liebsten war es ihm, wenn man das Original nur noch am Text und selbst dann nicht mal auf Anhieb erkannte. Wenn Arrangement und Interpretation etwas Neues entstehen ließen, das nur in den Wörtern eine - zugegeben - recht große Schnittmenge hatte. Aber der alte Zauber von 'Pirates' wollte sich nicht mehr einstellen. Und zu kurz war die Scheibe definitiv auch. 46:36 Minuten. Büschen mau, Rickie, sagte Peter zu sich selbst. Nicht übel, klar. Geht ja gar nicht. Frau Jones liefert doch keinen Schrott ab. Und dann diese Stimme. Sie könnte die Pfarrnachrichten vertonen, er würde das Album kaufen. 

Aber so ist das eben, wenn die Latte der Erwartungen auf Weltrekordniveau liegt: Man kann eigentlich nur drunter herfliegen. Und jetzt Seeed! Er hatte ne Karte für Oberhausen, war nach der  Statusmeldung der Band auf ihrer Facebookseite offenbar der Schnellste in der Kartenverlosung im Internet gewesen und hatte einen feinen Platz ergattert. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Einen sehr feinen. Reihe 1, Sitz 1. Standesgemäß. Aber erst die Platte. Er konnte ja schlecht in vier Wochen zum Konzert gehen und das Album noch nicht kennen. War ja nur der halbe Spaß. Er regelte die Bässe noch etwas nach oben, warf den Thorens an und setzte vorsichtig die Nadel auf. Ein fettes Wupp in den Boxen. Gefolgt von dem wohlvertrauten Knistern, ganz schwach, wie ein weißes Rauschen auf dem Trommelfell. Und jetzt, jetzt ging gleich die Party los. Klöck.

Wie jetzt, klöck? Die Anlage war aus. Standby. Peter blickte sich um. Hatte da jemand mit der Fernbedienung gespielt? Die lag seit Jahren in seiner Nachttischschublade, er wusste gar nicht, ob es die Batterien noch taten. Kaum denkbar. Hoffentlich waren die nicht ausgelaufen. In der kleinen Wohnung brauchte er keine Fernbedienung. Da lag ja nix fern, alles einen Handgriff entfernt. Und er stand sowieso viel zu gerne vor seiner Anlage. Und regelte alles per Hand. Zudem: Wer sollte das gewesen sein, der ihm diesen Streich spielte? 

Er war seit dreieinhalb Jahren solo. Nachdem ihn Bettina Knall auf Fall verlassen hatte. Zumindest für ihn war die Trennung mal wieder überraschend gekommen. Aber was sollte er machen, er war schließlich ein Mann und hörte Nachtigallen selten trapsen - selbst wenn sie mit Stahlkappenschuhen steptanzten. Ische lag faul auf dem Sofa und blinzelte träge mit einem Auge in die herbstliche Mittagssonne. Der Hund tat unschuldig. Peter ging zu seinem alten Denon-Verstärker und schaltete von Standby wieder auf Power. Der Thorens hatte sich ohnehin fleißig weitergedreht, er hatte seinen eigenen Strom. Und sowieso keinen neumodischen Schnickschnack wie Standby oder Fernbedienung. Tonarm rauf, Tonarm runter. 33 oder 45. Fertig. Nächster Versuch. Nadel wieder in die Anfangsrille setzen. Wupp, Knistern - und jetzt, jetzt ging die Party wirklich los. Yeaaah! Fette Bässe, Intro, Peter Fox am Start. Klöck. Standby. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Maaaaaann! Peter rastete aus. Was ist mit dem Teil? Komisch, er hatte gestern noch vor der Anlage gestanden und sich gefreut, dass die noch lief. Immer gelaufen war. Nie den Dienst versagte. Gute alte Wertarbeit, hatte er noch gedacht. Unkaputtbar. Er hatte sich die Anlage damals nach und nach zusammengestellt. Wie er sie immer haben wollte. 1988 war das. Magnat-Boxen, Onkyo-Verstärker, Onkyo-Receiver, Dual-Doppeltape, Philips-CD-Player. Alles Testsieger, alles Referenzgeräte. 1989 kam dann endlich der Thorens dazu, auf den er ein Jahr gespart hatte. 700 Mark kostete der Bentley unter den Plattenspielern damals - das ging nicht mal so eben aus der Lameng. Und von seinem ersten Redakteursgehalt konnte er das nicht abzwacken. Er musste erstmal ein paar Schulden abtragen, die er im Grundstudium angehäuft hatte. 

24 Jahre hielt die Anlage jetzt schon. Und sie war verdammt oft auf Herz und Nieren getestet worden. Damals bei den legendären Spontan-Partys in der Dortmunder Straße, in seiner alten WG. Hatte immer brav Dienst geschoben und Tausende von Platten, Hunderte CDs und Tapes abgespielt. Acht bis zehn Stunden am Stück, bei voller Leistungsbereitschaft. Und alle Geräte taten es noch. Gut, das Tape war nicht mehr angeschlossen, heute hing schließlich ein CD-Player, ein CD-Recorder, ein DVD-Player und der iPod am Receiver und so viele externe Anschlüsse hatte der alte Onkyo noch gar nicht. Aber wenn Peter seine Mixtapes mal wieder rauskramen und das Tapedeck anschließen würde - da war er sicher - dann würde sich auch der alte Dual wieder ordnungsgemäß zum Dienst melden. Aber jetzt war der Verstärker abgekackt. Das Herzstück. Die Anlage lag jetzt im künstlichen Koma. Was, wenn das Herz nie mehr richtig schlug? 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Keine Mucke mehr. Nur noch Pseudo-Mucke. Am Laptop, am Rechner, vom Mini-iPod mit Stöpseln im Ohr. Das war für Peter nur Ersatzbefriedigung. Music to go. Wie eine schnelle Handentspannung vor der Arbeit. Aber Peter stand mehr auf einen schönen langsamen Sonntagnachmittags-Fick. Das muss das Boot abkönnen, sagte Peter zu sich selbst, als er sich daran machte, den Onkyo aus dem Regal zu operieren. Mannmannmann, gestern noch daran gedacht, wie lange ich die Anlage habe und dass ich so froh bin, dass die noch nicht inne Wicken ist. Und dass die bloß nicht kaputt gehen darf, weil die Teile wahrscheinlich kaum noch jemand reparieren kann, weil es ja kaum noch Radio- und TV-Fachgeschäfte gibt, sondern nur noch diese ätzenden Elektronik-Discounter. Wo keine Fachleute mehr arbeiten, v
on Radio- und Fernseh-Technikern mal ganz zu schweigen, sondern wo man nur noch Verkäufer und Kassierer antrifft. Gestern hatte er noch dran gedacht. Und heute machte der Onkyo die Grätsche. Denken bringt Unglück. Peter Wunderlich war frustriert.    

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