Dienstag, 30. Oktober 2012

Geh mir doch weg VIII: Revanchefoul


"Die Wahrheit“ war seine ganz persönliche Rückschau, seine musikalische Jahresbilanz. Peter Wunderlich ging dafür am Ende eines jeden Jahres quasi immer wieder den 4. Schritt: Er machte eine gründliche und furchtlose Inventur in seinem Inneren. Fiel ihm schwer. Denn er war alles andere als furchtlos. Gut, auch keine jämmerliche Bangebuxe. Aber Peter Wunderlich wusste viel zu gut, was Angst war. Wenn sie über Peter kam, dann kam sie unfair. Und nie allein. Oftmals brachte die Angst gleich ihre Schlägertruppe mit: die Furcht, die Selbstzweifel, die Minderwertigkeitskomplexe und – wenn’s knüppeldick kam - auch noch die üble Depression. Dann fielen sie in wilden Horden über ihn her. Gefesselt und geknebelt hielten sie Peter dann wochen- und monatelang gefangen. An einem sicheren Ort. Dem sichersten Ort der Welt. In seinem Kopf.


(Foto (c): Thomas Ottensmann)


Nein, Peter Wunderlich war alles andere als ein furchtloser Mensch. Trotzdem zwang er sich von Zeit zu Zeit, den vierten Schritt zu gehen. Er hielt diesen eigentlich recht simplen Arbeitsauftrag für einen der schwierigsten Schritte, die er vor langer Zeit in einem Pfarrhaus in Köln zum ersten Mal gegangen war. Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren. Peter war oft daran gescheitert. Einfach, weil er sich nicht aufraffen konnte. Und weil er immer ein wenig Angst davor hatte. Ein wenig? Gelächter. Er hatte die Hose gestrichen voll. Muffe vor dem, was da alles auftauchen würde. Und wozu aufraffen? Er fand doch alles. Gut, das konnte schon mal dauern. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, dass er etwas Wichtiges jemals nicht wiedergefunden hätte. Die Steuerunterlagen aus dem Jahr 2010, gut, die waren bis heute noch nicht wieder aufgetaucht. Aber sie mussten noch irgendwo sein. Wirft man ja nicht weg, so einen doofen Ordner. Hatte damals bei der Buchprüfung ein Riesentheater gegeben. Zehn Jahre Aufbewahrungspflicht, blablabla. Ordnungsstrafe, blablabla. Aber sein Steuerfuzzi hatte einen guten Job gemacht. Dafür bezahlte er ihn ja auch fürstlich. So konnte er in seinem Chaos weiter wurschteln und hatte mit dem ganzen Kram nix am 
Hut. Und Holger war seine Kohle wert. Hielt ihm die Aasgeier vom Leib. Und bei ihm dafür mächtig die Hand auf.

Peter hatte sich in seinem Chaos, das wohl nur er als kreativ bezeichnen konnte, häuslich eingerichtet. Sein Kumpel Dazzle, der eigentlich Andreas Dassler hieß, aber vom Englischlehrer Mr. Beckmann auf den angeblich deutlich englischeren Vornamen Dazzle getauft wurde, hatte mal gesagt, es sei ekelhaft, Peter halte sogar in seinem Chaos irgendwie Ordnung. Dafür verachte er ihn. Chaos habe gefälligst unordentlich zu sein, er könne sich mal ein gutes Beispiel an ihm nehmen. Er finde garantiert nichts mehr wieder, wenn er es erst mal in seinem Jugendzimmer versenkt habe. Und so gehöre das auch mit dem Chaos. Dazzle war sein bester Freund. War Dazzle sein bester Freund? Oder nur der, den er am längsten kannte? War das überhaupt ein Unterschied? Was war nochmal ein Freund? Und was ein bester? 

„Nur weil wir hier zusammen an der Theke sitzen und Bier trinken“, hatte Dazzle, der in der 7. Klasse 
hängengeblieben und in Peters Klasse strafversetzt worden war, in sein Guiness gebrummt, „heißt das noch lange nicht, dass wir befreundet sind.“ Muss 1987 oder so gewesen sein. Da kannten sie sich über zehn Jahre. Er hatte sich den Spruch gemerkt. Weil er so beleidigt war. Er hatte Dazzle schon damals für seinen besten Kumpel gehalten. Weil man auch mal über was anderes als immer nur über Weiber und Fußball quatschen konnte. Über Geschichte, über Politik und über die Sinnfrage. Die Frage der Fragen. Wo führte das alles hin, wo sollte das enden? Frau, Kinder, 
(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Schützenkönig, Reihenendhaus mit Jägerzaun? 

Tja, wie sollte es weitergehen? Peter hatte das noch nie gewusst. Er hatte kein Talent zum Pläneschmieden. Er ging davon aus, dass er eine Frau finden würde, er ging davon aus, dass sie Petra heißen würde. Peter war mit ihr seit seinem 14. Lebensjahr zusammen. Petra hatte ihr Studium in Bochum längst hinter sich gebracht. Kunststück, sie war ja zwei Jahre älter und musste auch nicht zum Bund. Weil Frauen damals sowieso noch gar nicht zum Bund durften. Ja, damals war alles noch überschaubar. Er war mit Petra zusammen, weil er schon immer mit ihr zusammen war. Vorher war nix und danach... - warum sollte es überhaupt ein Danach geben. War das wirklich nötig? Er wusste es nicht. Wozu wechseln, wenn es keinen Grund gab. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Petra war Petra und er wusste, was er an ihr hatte. Tanzkurs, Abitur, Freiwilliges Soziales Jahr, Bundeswehr, Studium. Peter und Petra waren immer noch zusammen. Peter stand jetzt selbst kurz vor dem Examen. Petra arbeitete seit einem Jahr bei einer Krankenkasse, die sich wahrhaftig nicht zu blöd war, seit neuestem Gesundheitskasse zu nennen.  „Ja, ich frage dich“, hub Dazzle wieder an und setzte sich - obwohl längst hackedicht - kerzengerade hin, „wie soll das denn weitergehen?“.

'Jede Menge Kohle', 'Die Abfahrer' und 'Treffer'. Ihre Lieblingsfilme waren in ihrem Wortschatz allgegenwärtig - und die Zitate aus den Ruhrpott-Klassikern kamen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit wie aus der Hüfte geschossen. Vor allem bei Dassler: Wenn es um Sprüche ging, zog Dazzle schneller als Lucky Lukes Schatten. Ja sicha war Dazzle sein bester Kumpel. Und der, zu dem er am längsten nach dem irgendwie abrupten Ende der gemeinsamen Schulzeit 1983 Kontakt gehalten hatte. Sogar ohne große Mühe Kontakt gehalten hatte. 

Er war einfach jedes Wochenende nach Hause gefahren, nach Bösen, ja das Kaff hieß wirklich so. Bösen. Zu seinen Eltern, zu Petra. Und hatte sich dann freitags um 21 Uhr pünktlich bei Pichel eingefunden. Wie verabredet. Nur unverabredet. Da schlugen sie dann nach und nach sowieso alle auf: Dazzle, Lucky, Ernie, Hälfte. Manchmal sogar Karin, Rosi und leider viel zu selten auch Judy, auf die er in der Mittelstufe so scharf gewesen war. Sechs bis acht aus seiner Jahrgangsstufe trafen sie eigentlich immer, Dazzle und er. Danach ging's dann manchmal noch ein Häuschen weiter, in die Korova Milchbar oder ins Zero, der örtlichen Abschleppfabrik. Das war ein Ritual. Seit sie volljährig waren. Also seit einer Ewigkeit.

Rituale hatten Tradition im Sauerland. Die hatte irgendwie jeder in der kalten Heimat. Sein Alter ging sonntagsmorgens frisch rasiert, im Anzug mit Schlips und Kragen ins 
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Hochamt und nach dem Segen dann direkt zum Frühschoppen. In die Alte Post. Sauerland: Kirche, Kneipe, Friedhof, Schützenhalle - alles in einem Radius von weniger als einhundert Metern - eine städteplanerische Meisterleistung. Peters Vatta ging zum Stammtisch der Alteingesessenen in diesem Nest. Immer schon. Peter konnte sich nicht erinnern, seinen Vatta jemals sonntagsmorgens zu Hause gesehen zu haben. Er kam zum Mittagessen. Frühestens. Wenn er nicht direkt aus der Kneipe ins Stadion ging. Er kam vom Frühschoppen wie sonst von der Schicht. Nur nicht so pünktlich. Und deutlich derangierter - und bis zum Stehkragen voll. Der Stammtisch lag so nah bei der Kanzel, von der Pfarrer Pantel simultan in der letzten Messe um 11 Uhr predigte, dass die Nische, in der die „Bösener Jungs“ tagten, wegen ihrer bunten Bleiverglasung „Beichtstuhl“ getauft wurde. Sauerländer Humor. Lachhaft. 

Aber Peter musste gerade reden. Pichel und Korova Milchbar waren genau genommen auch nichts anderes als Abfüllstationen mit originelleren Namen. Für ein jüngeres Publikum. Aber gesoffen wurde hier genauso wie in der Alten Post, der Hängebrücke, der Pension Mähmann und dem Bistro Pompidou. Also saß Peter jeden Freitag bei Pichel und, nun ja, pichelte. Mit Dazzle, seinem besten und ältesten Freund. Aber Freunde, was heißt schon Freunde? 



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„Nur weil wir hier zusammen an der Theke sitzen und Bier trinken?“. Nein, nicht nur, weil sie das taten. Sondern weil sie das immer noch gemeinsam an ein und demselben Ort taten, obwohl ihre Leben längst diametral auseinander gedriftet waren, seit sie 1983 im Heu eines Trecker-Anhängers ihr Reifezeugnis versoffen hatten. Peter war beleidigt, aber ließ es sich nicht anmerken. Eine seiner vielen verborgenen Stärken. Sich nichts anmerken zu lassen. Jede Kränkung, jede Verletzung, jede Unverschämtheit einstecken, wie ein guter Boxer. Damals hatte er geschluckt und einfach zwei Tequilla bei Funny bestellt und bald darauf waren Dazzle und Wunderlich schon wieder kichernd am Tresen zusammengebrochen, als sie die schönsten Anekdoten ihrer Schulzeit plattwalzten. Alles in Butter. Aber Peter Wunderlich wäre nicht Peter Wunderlich, wenn er nicht nachtragend wäre. Wie ein Elefant, dem man als Baby im Zoo eine Erdnuss verweigerte. Peter würde sich diesen Spruch von Dazzle merken. Sehr lange. Immer. Bis ans Ende seiner Tage. Und es ihm heimzahlen. Revanchefoul. Er wartete nur auf die passende Gelegenheit. Und die würde kommen. So sicher wie das Amen in der Kirche. Und das Prösterchen im Beichtstuhl.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)

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