Mittwoch, 24. Oktober 2012

Geh mir doch weg IV: Der erste gute Tag

Der erste gute Tag. Am 22. Oktober. Er kringelte die 22 in seinem Kalender ein. Der erste gute Tag. Und ein so schöner noch dazu. Er atmete tief in den Bauch, wie es ihm seine Yoga-Lehrerin vor Jahren mal beigebracht hatte. War wohl das einzige, was er behalten hatte. Peter Wunderlich blinzelte in die warme Herbstsonne. Ein guter Tag. Und das war wortwörtlich zu nehmen. Nicht als Floskel.


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Und überhaupt: Jeder wünschte das jedem an jedem gottverdammten Tag. Und er hatte gerade 172 wirklich ungute Tage hinter sich. Am Stück. Und trotzdem hatten ihm an jedem dieser Tage eigentlich alle möglichen dahergelaufenen Menschen einen guten Tag gewünscht. Dabei hatte sich keiner einen guten Tag selbst so sehr gewünscht wie er, aber geworden waren die Tage nur öde, leer, sinnlos und schier endlos lang. Aber jeden Tag dieser grauenhafte "...und einen schönen Tag noch!"-Singsang. Fröhlich, klebrig, freundlich. "Wieso NOCH?", hatte er einmal eine Apothekenhelferin angeblafft, als er sein BTM-Rezept einlöste, "woher wollen Sie wissen, dass er bislang nicht schon so schön war, dass es gar nicht mehr zu toppen ist?". Sie hatte sich kleinlaut entschuldigt und achselzuckend gesagt, das sei ja gar nicht so gemeint gewesen. "Warum sagen Sie das dann?", hatte er gezischt und war grußlos gegangen. Es hatte ihm schon leid getan, als er wieder auf dem Bürgersteig stand. Was nicht hieß, dass er zurückgegangen wäre, um sich zu entschuldigen. Aber was hätte er auch sagen sollen? Sorry, ich hab 'ne schlechte Phase? Entschuldigung, war nicht so gemeint? Das ging nicht. Es war ja genau so gemeint, wie er es gesagt hatte.

Er konnte diese gespielte Freundlichkeit nicht leiden. Alles nur leeres Gewäsch. Als Höflichkeit getarnt. Egal, wie wenig jemand den anderen leiden konnte. Auf Bürofluren, in Redaktionen, in Amtsstuben und Tankstellen, überall das gleiche Scheißspiel. Guten Morgen, Guten Tag, Guten Abend, Gute Nacht. Wie in der Truman-Show. Nur nicht lustig. Selbst die Drückerkolonnen, die offenbar seinen Telefonanschluss in einer Nacht- und Nebelaktion gekidnappt hatten, um Peter Wunderlich rund um die Uhr Abos, Verbraucherinformationen und Telefonanschlüsse aufzuschwatzen, wünschten ihm allen Ernstes einen schönen Tag noch - nachdem sie ihm den durch ihren Anruf erst richtig versaut hatten. 

An sich war er ja selbst kein unhöflicher Mensch. Nein, nein, das wollte er sich nicht nachsagen lassen. Peter Wunderlich grüßte. Auch auf der Straße. Auch Menschen, die er gar nicht kannte. Peter Wunderlich war ja schließlich nicht mit der Rakete durchs Kinderzimmer geschossen worden. Nein nein, er grüßte, er sagte Danke und Bitte und gab sich jede erdenkliche Mühe, alle Mitmenschen zu respektieren. Zumindest wenn er gut drauf war. Das war zugegeben selten der Fall in letzter Zeit. Aber wenn er neben der Kappe war, grüßte er nicht. Wie auch? Er sprach dann ohnehin kaum. Er grüßte nicht, er telefonierte nicht, er ging nicht unter Leute. Peter Wunderlich fand das ehrlicher, als jedem Hanswurst einen Guten Tag zu wünschen - wo doch jeder Depp wusste, dass das gar nicht so gemeint war. 

Also sagte er, wenn er gut drauf war etwas anderes, Hallo oder Hi oder Mahlzeit. Ohnehin sein Lieblingsgruß. Mahlzeit. Am liebsten sehr früh morgens oder sehr spät abends. Zwischen 11 und 16 Uhr aber, wo dieser Beamtengruß in offenbar allen Kantinen von schlurfigen Griesgramen genuschelt oder gebellt wurde - dazwischen gab es nichts - und wo Mahlzeit das einzige authorisierte Grußwort war, so was wie eine landesweite Bürgerpflicht, da vermied er das Unwort. Antizyklisch nannte er das. Und bildete sich ein, dass sei individualistisch. Aber heute, am 22. Oktober WAR ein guter Tag. Der erste seit 172 Tagen. Was für eine Erleichterung. Ist das schön, dachte Peter Wunderlich und trat auf die Straße, um sich volle Breitseite vom Leben treffen zu lassen.


Keine Kommentare: