Montag, 29. Oktober 2012

Geh mir doch weg VII: Morgen wird gestorben

Roger Trash war zu Besuch. Peter Wunderlich freute sich. Lange nicht gehört, alter Helgoland-Cowboy. Bist viel zu früh abgetreten. Aber schön, dass Du da bist. Endlich nicht 
Die schnellen Schuhe
des Roger Trash.


(Foto (c): Thomas Ottensmann)
mehr allein wandern. „Heute wird gelebt, morgen wird gestorben. Es gibt kein Gestern, nur noch Morgen. Mein Ego geht baden, ich komm nicht mit. Kann nichts dafür, bin so gestrickt.“ Musik im Kopf. Normalzustand. Passierte öfter. Ach was, immer. Eigentlich immer. Außer nachts. Aber konnte er mit Bestimmtheit sagen, dass da nicht auch irgendwo sein ganz eigener Soundtrack unter den Träumen lag? Nein, das konnte er nicht. Wahrscheinlich träumte er nicht nur in Farbe, sondern auch mit eigenem Soundtrack - und gebasteltem Cover. Wie bei seiner Jahresgabe für Freunde, Unterstützer und Förderer, „Die Wahrheit“. Dieser Sampler beschäftigte ihn mindestens zwei Monate, jeden Herbst. Im Kopf. Was nicht das Schlechteste war. Kam man nicht auf dumme Gedanken. Und hielt die Fenster schön geschlossen.
(Photoshop-Friemelei (c):
Thomas Ottensmann)

1999 hatte Peter damit angefangen, Mixtapes für seine Mischpoke zu basteln. Also 90er Mixtapes: selbstgebrannte, eigenartig zusammengestellte CD-Kompilationen mit aufwändig gestalteten Klappcovern. Doppel-CDs waren Standard. Denn 22 Stücke reichten Peter selten, um sein persönliches Jahr in Moll zusammenzufassen. Er sagte anfangs, das sei so was wie eine Bravo-Hits in gut. Aber im Lauf der Jahre hatte sich „Die Wahrheit“ in eine ganz andere Richtung entwickelt. Es war Freude in schlecht. Eine Mollbinde für die Ohren. Oder so. Er hatte mal gelesen, Melancholie sei Freude am Traurigsein. Das gefiel ihm. Er wusste ziemlich genau, was gemeint war. Er mochte Moll. Auch Dur. Aber eher Moll. Fühlte sich für Peter nicht wie Titelmusik für Suizid-Symphatisanten an. „Die Wahrheit“ war Moll. Das gehört so, hätten seine Kumpels im Pott gesagt.  

Was Wunder, "Die Wahrheit" war sein ganz persönliches, ja fast intimes Jahresfazit in Musik. Gute Jahre waren in Dur, schlechte in Moll. Für ein kleines, sehr streng limitiertes Fachpublikum. 10er Auflage, selten mal ne 20er, eine Wahrheit gab es nur dreimal. Manufactum, alles gute deutsche Wertarbeit, Unikate, ein jedes für sich. Handgearbeitet, mundgeblasen und fußbemalt. "Is dat geil! Danke, Alter. Die läuft inner Küche rauf und runter. Die Blagen nehmen die mit in ihr Zimmer und fürs Auto habe ich mir ne Kopie gebrannt. Das erwarten wir ab jetzt jedes Jahresend. Dem kannst du dich nur durch Tod entziehen, dat weißte , woll?", hatte Lars schon nach der Erstauflage gesagt. Ach, Lars, ja das wusste er. Tod war schließlich immer eine Lösung, wenn auch selten die beste.

Wenn er recht überlegte, war kaum eine der 16 Teilwahrheiten in Dur gehalten. Zumindest nicht mehrheitlich. Ja, er war eben eher der Molltyp. Auch wenn ihn Menschen, die ihn kannten und erst recht Menschen, die ihn nicht gut kannten, für einen Humoristen hielten. "Ach ja, den kenne ich. Das ist doch der kleine Dicke, der immer so lustig ist", hatte mal eine entfernte Kollegin zu der anderen gesagt. Er hatte es in der Kantine mitbekommen, weil Frauen ja oft lauter sind, als sie meinen. Nur an den zumeist falschen Stellen. Lustig? Er? Peter Lustig? Haha. Sicher, er nahm seine Rolle als Redaktionszyniker sehr ernst. Ein schmutziger Job, aber einer musste ihn ja machen. 

Und er gefiel sich im Ironisieren, im zynischen Kommentieren des Weltgeschehens. Sarkasmus war eine seiner komplett unverborgenen Stärken. Aber konnte das wirklich eine Stärke sein? Oder war es eine Schwäche? Unfair? Gemein? Bösartig? War Harald Schmidt vielleicht nur ein fieses Arschloch? Er wusste, dass Zynismus lange auf die Kyniker zurückgeführt wurde. Griechische Bettelmönche, die seit über 2500 Jahren Geschichte waren. Trotzdem: Sie hatten wohl seinen liebsten Ismus erfunden. Definitiv. Kynismus hieß wörtlich übersetzt sowas wie Hundigkeit, was Peter heute - als es ihm wieder in den Sinn kam - sehr gut gefiel. Passt, wackelt und hat Luft, raunte er sich in seinen mittlerweile erstaunlich dichten Bart. Zyniker provozieren halt gerne und kommentieren das Geschehen mit Satire. Und legen so den Finger in Wunden, von denen andere sich lieber fernhalten. Weil sie kein Blut sehen können. Die weitergehen, wenn ein Fixer in der Öffentlichen Toilette um Hilfe wimmert, weil die Wucht des viel zu reinen Heroins sein Herz zum implodieren bringt. Neinnein, dachte Peter, Zyniker sind keine Schweine. Sie sind nur anders. Nicht normal. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Wie kam er jetzt eigentlich auf Zynismus? In seinem Kopf nölte gerade Morissey. Herrgott, dachte Peter, mit einem guten Sänger wären die Smiths wirklich eine der größten Bands des Jahrhunderts gewesen. Half nix. Morissey greinte: "Girlfriend in a Coma / I Know, I Know / It's really serious." Weiter kam er nicht, Textschwäche. Peter war nie ein besonders großer Smiths-Fan gewesen, aber das eine oder andere Stück auf diesen beiden Best-Of-Platten war doch vorzüglich. "Panic" etwa, das er bei DJ-Sets eigentlich immer eingebaut hatte - einfach, damit er seinen eigenen Hals an einem imaginären Strick aufhängen, die Zunge in den Mundwinkel packen und die Augen nach oben verdrehen konnte, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Kam gut an beim Publikum. "Hang the DJ, Hang The DJ, Hang The DJ" brüllten die Partymädchen dann, wenn er die Regler ein klein wenig nach unten zog. Hach, lange her. 80er Jahre. Zugegeben, ein billiger DJ-Trick. Aber seiner. Hauptsache. Sein Hirn hatte längst eine saubere Blende gefahren. Immer noch die Schmidts: "And if a double-decker bus / Crashes into us / To die by your side / Is such a heavenly way to die / And if a ten ton truck / Kills the both of us / To die by your side  / Is such a heavenly way to die." Himmlische Art, den letzten Pups zu lassen? Köstlich, diese Briten. Ja, er liebte dieses makabre, morbide Denken, dass den Tod auch nur als eine andere Form des Lebens sah und das Sterben lakonisch und selbst-ironisch karikierte. Er hatte sich viel mit dem Sterben und dem Tod beschäftigt. Eigentlich immer schon. Sagen wir mal spätestens seit der Pubertät. Da besonders schlimm. Pubertät halt. Weltschmerz, Daseinsfragen, No Future. Er hatte schon damals etwas, was er Grübelphasen nannte. "Na, biste widder grübelig?", fragte seine Omma dann. Komisch, man konnte ihm das offenbar ansehen. An den Augen. An den Mundwinkeln. An dieser senkrechten Denkfalte auf der Stirn.

Je älter Peter wurde, desto raumfordernder war die Grübeligkeit. Die Jahre wurden schleichend mollliger. Deutlich. Auf's Jahr gerechnet gab es für ihn jetzt, also im zarten Alter von 48, etwa 250 Molltage und 115 Durtage. So ähnlich wie bei der "Wahrheit". Zwei Drittel, ein Drittel. Den Großteil des Jahres flog Peter sehr tief durchs Leben, ein Drittel sehr hoch. Dazwischen, in ausreichender Höhe und auf Sicht, flog Peter so gut wie nie. "Normal ist langweilig", sagte er mal zu seiner Nachbarin Claudia. Sie hatte gemeint, er wüsste gar nicht, wie sehr sie ihn um seine Höhen und Tiefen beneide, bei ihr sei immer alles gleich - "nicht sensationell schön, nicht unerträglich grauenhaft, einfach immer nur normal". Aber er fand die Vorstellung unerträglich. Jeder Tag wie der andere, keine Ausschläge nach oben oder unten. Das sagte er ihr natürlich nicht. "Darauf brauchst Du echt nicht neidisch zu sein. Das ist abwechslungsreich, aufregend und abenteuerlich, aber manchmal auch sehr anstrengend. Und dann hätte ich gerne mal Urlaub von der Achterbahn."

Sicher, es gab Tage, da wäre Peter Wunderlich ganz gern für ein paar Stunden normal gewesen. Dienst ist Dienst, Schnaps ist Schnaps. Und wenn ich krank bin, hole ich mir einen Gelben. Und ich weiß im Herbst schon, wohin ich im Sommer fahre. Und die Brückentage nehme ich sowieso alle mit. Und mit 60 höre ich dann auf zu malochen und das Haus ist mit 55 abbezahlt. Die Blagen sind ausm Haus. Testament ist fertig, jetzt wird restgelebt. Ja sicher, Peter wäre ganz gern mal im Staubmantel der Normalität durchs Leben flaniert, wirklich  gern. Diese Art von Langeweile wünschte er sich. Wenigstens für eine gewisse Zeit. Dabei kam für ihn Langeweile direkt nach Zahnschmerzen. Ein paar 
(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Jahre mal normal sein, derweil die Schäfchen ins Trockene bringen. Den Ball flach halten. Aufdrehen kann ich dann immer noch. Aber so dachte er erst heute, mit fast Fuffzich. Das Bergfest war lange vorbei. Genau genommen war es kurz vor Knapp. Er hatte das 2003 aber nicht gewusst, ein Jahr später immer noch nicht. Und 2009 zur Abwechslung noch nicht mal geahnt. Wie doof konnte man eigentlich sein? Scheint auf der nach oben offenen Dummheits-Skala keine nennenswerten Grenzen zu geben dachte Peter, als er aus dem Buchenwäldchen auf den asphaltierten Weg trat. Fester Boden unter den Füßen. Fühlte sich nicht schlecht an. Ungewohnt, aber definitiv nicht schlecht. Er stand vor dem verblichenen Schild und konnte die rote Schrift auf weißem Grund kaum noch entziffern. Dann hatte er es: "Centrum 7 km".

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


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