Sonntag, 28. Oktober 2012

Geh mir doch weg VI: Dann hast du in der Not

"Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not", wie Peter Wunderlichs Omma immer zu sagen pflegte. Den Spruch hatte seine Mutter dann solange wiedergekäut, bis er ihm als Kind zwar geläufig, aber deswegen noch lange nicht verständlich war. Zudem: Sparen war nicht Peters Sache. Nie gewesen. Sein Vatta hatte das verstanden, als Einziger. "Du bist wie ich", hatte er zum kleinen Peter gesagt, "hast immer Geld. Und nie." Auch das hatte er als Kind nicht verstanden. Wie auch, wenn es ihm keiner erklärte. Und mit reden hatte man es im Sauerland nicht so. Zumindest nicht mit den Blagen. Die verstanden das ja sowieso nicht. Und Reden war mühsam. Keine Zeit. Keine Lust. 

Und wie sollte das gehen? Immer Geld haben? Nie Geld haben, das verstand er. Immer schon. Gerade noch Taschengeld in der Hosentasche. Dann schon im Konsum Süßigkeiten (ein Snickers, ein Nuts, Gummibärchen und Chipsfrisch ungarisch zu 50 Gramm) und ein Comic-Heft (Fix und Foxi) gekauft. Pleite. Pleite kannte er gut. Als Kind, als Jugendlicher, als Student. Warum nicht auch als Erwachsener? Ebend. Er hasste, es wenn die Leute ebend statt eben sagten. Onkel Helmut war so einer. Immer sagte der ebend! NACKEND wollte Peter rufen! Manchmal tat er das auch, wenn Menschen in seiner hörbaren Umgebung schlechtes Deutsch sprachen. Wenn er auf dem Schulhof zwei Mädchen quasseln hörte: "Und das hätte er zumindestens für mich tun können." ZUMINDEST! Oder auf dem Gebrauchtwagenmarkt im Ruhrgebiet: "Also wegen dem Auto muss ich mich noch mal erkundigen." WEGEN DES AUTOS! Pseudo-Tourette nannten ihn seine Kumpels deshalb in der Oberstufe. 

Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not. Peter Wunderlich musste an diesen Spruch denken, als er mit Ische den Wald erreichte und den Karabinerhaken des Halsbands löste. Warum er gerade jetzt an diesen Spruch dachte, wusste er nicht. Seine Gedanken waren Freigeister. Irrlichter. Schienen von Stringenz und kausalen, vielleicht sogar logischen Ketten nichts zu halten. Von Höcksken auf Stöcksken. Und dann die zweite links und die dritte rechts. Und dann fragte er sich oft, wie bin ich denn jetzt darauf wieder gekommen? Vielleicht weil er sehr viel Zeit zum denken hatte? Weil er alles sparen musste, nur nicht Zeit? Weil er in Not war? 

Ach, Not. Was heißt hier Not? Seine Omma wusste noch, was Not war. Sie sagte schlicht und ergreifend: "Ach Junge, wirklich Not leidest Du, wenn Du frierst, Hunger hast oder Krieg ist. Bittere Not, wenn alles zusammenkommt." Das kannte Peter Wunderlich nicht. Wie auch? Er war 1964 geboren und war als Jugendlicher genervt von der ewigen Erzählerei von Krieg, von Hunger und von Armut. Krieg? War der nicht vorbei? Hunger? Muttern kocht gleich. Armut? Das nächste Bafög kommt bestimmt. 

Gespart hatte Peter Wunderlich nie, im Leben nicht! Trotzdem hatte er zuletzt etwas auf der gar nicht mal so hohen Kante gehabt. 5237,41 Euro. Das Bündel in seiner rechten Hosentasche war viel dünner, als man glauben sollte. Vor allem, wenn er daran dachte, dass das der letzte Rest vom Schützenfest war. Zwanzig Jahre malocht, Hochschulabschluss mit "Sehr gut" und das war jetzt alles, was übrig blieb? Aber Peter Wunderlich wollte nicht lamentieren. War nicht sein Ding. Brachte ja keinem was. Das waren - vor der Währung - mal über 10.000 Mark, die er da lose in seiner rechten Hosentasche trug, zusammen mit der Hundepfeife aus Hirschhorn. Soviel Geld hatte er selten flüssig gehabt. War also nicht die schlechteste Situation. Und damit weit entfernt von Not. Gut, er wusste nicht genau, wo er schlafen sollte. Aber schlecht schlafen konnte er überall gut. 


(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Peter Wunderlich fror. Die Sonne war vor einer halben Stunde  untergegangen. Der Herbst war schon nach ein paar Tagen längst nicht mehr golden, sondern weiß geworden. Nachtfrost. Und ehe es wieder erträglich warm wurde, dauerte es bis zum frühen Nachmittag. In Süddeutschland hatte es die ersten Schneefälle gegeben. Hatte er an einem Kiosk auf den Tageszeitungen gesehen. Gut, dass er nicht in Süddeutschland war. Aber auch hier, im tiefsten Westen war es empfindlich kalt geworden. Und er war nicht so weit gekommen, wie geplant. Ische hatte mal hier Witterung aufgenommen, war mal dort in einen Teich gehüpft und musste natürlich jedem Kaninchen hinterher. Aber er hatte keinen Zeitplan. Auf ihn wartete auch niemand. 

Aber die Füße taten ihm weh. Er war es einfach nicht gewohnt, den ganzen Tag auf Schusters Rappen zu reiten. Und Hunger hatte er auch. Seinen Proviant hatte er schon lange aufgebraucht. Ein Snickers und eine Banane waren noch übrig. Und für Ische eine Handvoll Trockenfutter und ein letztes Stück Ochsenziemer. Müssen wir wohl mal wieder in die Zivilisation eintauchen, dachte Peter Wunderlich als er nach einem geeigneten Schlafplatz Ausschau hielt. Das würde ihnen wohl nicht erspart bleiben.


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


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