Donnerstag, 1. November 2012

Geh mir doch weg X: Die Summe der Laster

"Die Summe der Laster bleibt immer gleich", pflegte seine Omma zu sagen. Peter Wunderlich hatte Prinzipien, ja sicher. Aber im Zweifel nahm er es mit ihnen nicht ganz so genau. 
(Foto (c): Thomas Ottensmann)
„Entweder man raucht oder man raucht nicht“, klugscheißerte er gerne gegenüber seinen Freunden, die meinten, sie würden eigentlich gar nicht rauchen, die er aber auf jeder Party mit einem Glimmstängel in der Hand erwischte. Das konnte er natürlich nur bringen, wenn er selbst gerade mal nicht rauchte. Das passierte in regelmäßigen Abständen. Wenn ihn das Husten im Morgengrauen ankotzte. Wenn er im Kino seine Jacke auf dem Schoß im Dunkeln riechen konnte. Das war das Schlimmste: Seine Klamotten stanken immer nach Kneipe. Immer wie versackt und durchgemacht. Auch, wenn er sie am Morgen erst frisch gewaschen aus dem Schrank geholt hatte. Deswegen hörte er immer mal wieder auf. „Aufhören? Ganz einfach. Ich hab das schon Dutzende Male geschafft“, sagte Peter, wenn das Thema mal wieder auf Nikotinentwöhnung kam. Der Witz an der Sache war: das stimmte. Fünf, sechs Mal hatte Peter die schlechteste seiner leider unverborgenen Schwächen schon abgelegt. Aber die Summe der Laster bleibt immer gleich. 

Gewöhnte er sich das Rauchen ab, wurde er fett. Und zwar richtig. Fing er wieder an, blieb er fett, rauchte dafür aber. Na, super. Aber Peter hatte mit seinen Schwächen und Lastern zu leben gelernt. Mal rauchte er, mal nicht. Dreieinhalb Jahre waren das längste Nichts, das er bislang geschafft hatte. Aber auch mal acht Monate, mal 15. Wenn er dann wieder anfing, fragten ihn seine entsetzten Freunde (alles Ex-Raucher und das sind ja - wie jeder Raucher weiß - die militantesten Nichtraucher der Welt): "Waaas! Scheiße. Du Idiot! Warum?" Und er antwortete wahrheitsgemäß: "Weiß nicht. Schätze aus Langeweile." Das Schlimme war, auch das stimmte, sein Motiv war nicht die Sucht, nicht das Verlangen des ehedem abhängigen Suchtzentrums nach Nikotin, das Hauptmotiv war reine Langeweile. Meistens fing er irgendwann im Frühjahr wieder an. Wegen der Hormone. Endorphinüberschuss + Samenstau = Nikotin-Yeeper. Fing er halt wieder an. Und jedes Mal dachte Peter spätestens nach dem zweiten Zug der ersten Zigarette nach ein paar Hundert Tagen: Ganz toll, Wunderlich, jetzt ist das Leben wirklich spannender.

Peter nahm es mit seinen Prinzipien eben nicht ganz so genau. Außer in der Sprache. Da war er Erbsenzähler, Korinthenkacker und Klugscheißer in einem. Gründlich? Aber sowas von. Jedes lächerliche Apostroph in Nikki’s Nagelstübchen oder Rüdigers‘ Frühstücksblitz prangerte er an. Lächelte bitter und schüttelte den Kopf über so viel Ignoranz gegenüber der Muttersprache seines Vaterlandes. Er mochte diese Sprache, genau genommen liebte er sie sogar. Er spielte gern mit Wörtern, das war im Kindergarten schon so. Und Buchstabensuppe und Russisch Brot gehörten zu seinen Lieblings-Nährmitteln. 

Deutsch galt oft als sperrig, unromantisch, hölzern. Als schwierig. Vor allem für Nicht-Muttersprachler. Da hatte er Glück gehabt. Angeboren. Aber es war ja auch immer eine nicht ganz unwesentliche Frage, wie man mit diesem Geschenk umging. Er hegte und pflegte seine Sprache, hütete seinen größten Schatz wie Smeagol. Und las, bis die Schwarte krachte. Trainierte wie besessen. Klaute mit den Augen, versuchte den Arbeitsspeicher im Kleinhirn ständig zu erweitern, damit er wuchs. Und wuchs. Und nicht schrumpfte. Bloß nicht schrumpfte. Wortfindungsstörungen? Ein Schreckgespenst. Er hatte die manchmal, in seinen dunklen Phasen, wenn er ohnehin kaum sprach. Nicht kommunizierte, nicht schrieb. Er fand nicht die passenden Worte, er konnte die Sachen nicht auf den Punkt bringen, konnte Dinge nicht umschreiben, hatte seine Zungenfertigkeit verloren und er konnte skurrill schreiben, ohne den Fehler zu finden. Das war für ihn das, was für andere ein Migräneschub sein musste. Kein Leben, kein Sterben. Untätige Zunge. Hoffen, dass es zu Ende geht. So oder so. Dass die Schmerzen im Denken aufhören. So oder so. Ja, das empfand er so: Er hatte Schmerzen im Kleinhirn. Migräne im Sprachzentrum, wenn die Depression kam. Und sie kam immer wie der kleine Hunger. Unangemeldet, unpassend, uneingeladen. Und blieb wie ein Schmarotzer, so lange sie wollte. Und hielt ihn gefesselt und geknebelt. Da war sie wie die Angst, die sich dann händchenhaltend an sein Bett setzte, wo Peter sich die Decke über den Kopf gezogen hatte. Am hellichten Tag.

Er versuchte wieder Musik in seinem Kopf zu finden, die ihn von den düsteren Gedanken an seine Krankheit ablenkte. Die ihn fröhlich machte. Die ihm den Takt vorgab. Das hatte er beim Bund gelernt. Marschieren zu Musik ist einfacher und macht das Gepäck leichter. Das war etwas des Wenigen, das er auch behalten hatte, von den Dingen, die man beim Bund lernt. Wie man pokert vielleicht noch und wie man ein T-Shirt auf DinA-4 faltet und wie man in die eigenen Stiefel pinkelt. Letzteres hatte er im Gegensatz zu dem anderen nie wieder gebraucht. "Oh Du schöner Westerwald, (Eukalyptusbonbon)" hatten sie beim marschieren singen müssen. In Coesfeld, in der Grundausbildung. In diesem verfickten Hochmoor hinter der Kaserne. Wo er sechs Wochen lang jeden gottverdammten Tag und jede gottverdammte Nacht (NATO-ALARRRRM! KOMPANIE AUUUUFSTEHEN!!!) recht deutlich auf die Nase gebunden bekam, dass der Rekrut Wunderlich ein kleines Licht ist und dass es ein Fehler gewesen war, aus reiner Bequemlichkeit nicht zu verweigern. Dass Schule nicht das Schlechteste war, dass die Uni die bessere Alternative gewesen wäre. Am besten die Uni in West-Berlin, das hätte alle Probleme auf einen Streich gelöst. Aber Peter Wunderlich war ein bequemer Mensch. Suchte den Weg des geringsten Widerstandes. Und konnte mit 19 noch nicht gut denken. Eigentlich bin ich feige, dachte Peter Wunderlich. Ein erbärmlicher Feigling. Immer wenn es schwierig wird, gebe ich auf. Ein feiges Fluchttier. Sachen packen, verpissen. Immer, wenn es eng wird und die Lösung eigentlich so nah und uneigentlich doch so fern liegt, nimmst Du Reißaus. Fluchttier? Passt. Peter Wunderlich fühlte sich oft wie der Esel in der Metapher des Sokrates. Der zwischen den beiden Heuhaufen verhungert, weil er sich nicht entscheiden kann, von welchem er fressen soll.
 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Ja, kann sein, dachte Peter Wunderlich. Du bist ein Esel. Ein Fluchttier. Ein Feigling. In seinem Kopf spielte mittlerweile The Jam. Ah, Paul Weller, freute er sich. Schöner Titel, lange nicht gehört.  Mit „That’s Entertainment“ im Innenohr spürte er den tauben Fleck unter seinem rechten Fuß nicht mehr ganz so stark. Peter Wunderlich fand ein verklebtes Eukalyptusbonbon in der Münztasche seiner Five-Pocket-Jeans. So Scheiße war das Leben gar nicht. Zwischen den Bäumen sah er den See blinzeln. Die Sonne war endlich da. Peter Wunderlich blinzelte freundlich zurück.


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)

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