Donnerstag, 8. November 2012

Geh mir doch weg XV: Schlafes Brüder

Seine Schlaflosigkeit hatte längst absurde Züge angenommen. Er war ja selten um einen trockenen Spruch verlegen. Schlecht schlafen kann ich überall gut, sagte Peter manchmal, auf seine seltsamen Schlafgewohnheiten angesprochen. Oder: 
(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Ach, schlafen wird ohnehin überbewertet, ich schieb das meistens ans Monatsende. Letzterer war natürlich geklaut. Von Theo Gromberg. Aus dem Kino. Tiefste Achtziger, als Westernhagen noch schlicht Marius hieß und als Musiker sogar noch glaubwürdig wirkte. 

Und heute? Konnte Peter immer noch nicht gut schlafen. Entweder schlief er zu viel oder zu wenig. Peter glaubte, dass das mit seinen mentalen Phasen zusammenfiel. Er hatte fast fünfzig Jahre mit empirischen Studien im eingehenden Selbstversuch verbracht und musste das eigentlich wissen. Ging es ihm nicht gut, schlief er zu viel. Ging es ihm gut, schlief er zu wenig. Beides nicht gesund, wie Schlafforscher seit Jahrzehnten mahnten. Dabei wusste Peter genau, wie viel Schlaf er brauchte. Sehr genau. Viereinhalb Stunden. Höchstens sechs. Drei bis vier Tiefschlafphasen à 90 Minuten. Das entsprach im Übrigen ziemlich genau der wissenschaftlich anerkannten Mindestmenge. 

Er hätte doch Papst werden sollen. Karol Wojtyla hatte so viel zu tun, dass er nur fünf Stunden schlief. Und der war ja auch sehr alt geworden. So alt, dass man sich im Nachhinein fragen musste, ob Gott keinen Bock auf den Nachfolger gehabt hatte. Bis auf ein zwei kurze Lebensabschnitte - in der Pubertät und in der zweiten Pubertät, also im Grundstudium - hatte Peter nie viel länger als sechs Stunden schlafen können. So ist das halt mit den Menschen, ihr Schlafbedürfnis ist angeboren, da kann man noch so viel üben und trainieren, das lässt sich einfach nicht ändern. Genauso wenig wie tag- oder nachtaktives Verhalten. Angeboren, Pech gehabt. Eule bleibt Eule, Lerche bleibt Lerche. 

Peter hatte das Schlafverhalten definitiv von seinem Vater geerbt. Und schlimmer konnte es kaum kommen. Er war ein nachtaktiver Frühaufsteher. Etwas, das viele Menschen "a pain in the ass" nennen würden. Als Letzter ins Bett, als Erster wieder raus. Das ging bei Peter bestens, störte ihn auch nicht - höchstens wenn er wieder mal mit ner Freundin zusammen war, die immer dann schlief, wenn er wach war. Wenn Peter seine 3-4 Tiefschlafphasen erwischte, war alles gut. Waren es nur zwei oder gar weniger, streikte irgendwann sein Körper. Die Folge: Üble Krämpfe in Waden, Füßen und Zehen, die er notdürftig mit hochkonzentriertem Magnesium bekämpfte und ein nervöses Augenlidzucken, gegen das kein Kraut gewachsen schien. 


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Schlimm wurde es immer dann, wenn Sorgen, Ängste und Nöte Peter den Schlaf raubten. Richtig übel immer dann, wenn er einfach nicht schlief, ohne triftigen Grund, einfach so. Teilweise wurde er erst dann so richtig hundemüde, wenn morgens der Wecker klingelte. Also damals, als er noch zur Arbeit gehen musste. Damals, als er noch richtige Arbeit hatte. Er wälzte sich dann erst die ganze Nacht hin und her, dachte in alle möglichen Richtungen, kam auf die absurdesten Ideen, hielt sie oft für genial und kam so einfach nicht in Schlaf. Solange diese Denkmaschine in seinem Kopf ratterte, war es Essig mit Schlafen. Und morgens dann aufstehen, heiße Dusche, Kaffee in Anstaltsdosen und zerschlagen wie eine Bad Bank zur Schicht. 

Apropos: Sein Vatta hatte sich den Schlafrhythmus spätestens mit Schichtarbeit versaut. Drei Schichten rund um die Uhr hatte er zuletzt malochen müssen. In einer Verzinkerei. In einem Alter, wo das der Körper weder kann noch will. Peter hatte das als Student auch getan, mehr Geld verdient als sein Alter. Er hatte das locker weggesteckt, als er in den Semesterferien in diesem Aluminiumwerk im Sauerland knechtete, um sein ständig zu knappes Bafög aufzubessern. Das war kurz nach dem Abi gewesen. Er war Anfang Zwanzig und konnte auch schon mal alkoholtechnisch über die Stränge schlagen und kam morgens trotzdem pünktlich um 6 Uhr zur Schicht. Mittags dann zum Stausee. Abends wieder ins Pan Tau, dem damals so angesagten Szenetreff. Hier war die ganze Abi-Bagage immer noch vollzählig am Start, in diesen Tagen, in denen der Ernst des Lebens zwar längst begonnen hatte, es aber keiner aus seiner Jahrgangsstufe so richtig wahrhaben wollte. 

Wir feiern einfach noch ein bisschen weiter, hatte er damals zu seinem besten Freund Rainer gesagt, mit dem er gemeinsam bei der Zeitung arbeitete. Und mit dem er auch beim Bund gemeinsam durch die Scheiße gerobbt war. Wir feiern einfach noch ein bisschen weiter, hatte Peter gesagt, um nicht raus ins Leben zu müssen. Um keine wegweisenden Entscheidungen treffen zu müssen. Um nicht erwachsen werden zu müssen. Peter kokettierte damit, das auch heute noch nicht zu sein. 48 und erwachsen? Warum? Und: wozu? 

Er kam ganz gut durchs Leben, wurde zumeist für jünger gehalten und war oft von Jüngeren umgeben. Auf Partys, die ihm gefielen, war er immer der Letzte, immer der, der für den Lichtschalter zuständig war. Kein Wunder, oft genug spielte er früher oder später den DJ. Weil die Musik so schlecht war, weil keiner tanzte oder weil keiner so recht Bock darauf hatte. Peter hatte immer Bock darauf. Egal, ob er mit oder ohne Begleitung gekommen war. Egal, ob die Begleitung jemanden auf der Party kannte oder nicht. Peter landete am Plattenspieler oder CD-Regal, hatte sein Set als Mixtape im Kopf und hangelte sich durch seine All-Time-Favourites. Mühelos, schwerelos, magisch. Vergaß Raum und Zeit und freute sich, wenn er die Leute zum Tanzen und manchmal auch zum Lachen brachte. 


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Dass die eine oder andere Begleitung im Laufe der Nacht längst die Party und damit zumeist auch Peter verlassen hatte, merkte er oft erst, wenn er im Morgengrauen als einer der Letzten vom harten Kern erschöpft am Rippenkörper der Heizung kauerte und gierig einen kümmerlichen Rest Nudelsalat verschlang. Weil er vor lauter Musik im Kopf und DJ-Gewese mal wieder vergessen hatte, zu essen, als es Zeit gewesen war. Und das Buffet noch reichhaltig und appetitlich schien. Diese paar Wochen Schichtarbeit und diese vielleicht hundert Partys konnten aber nicht der Grund für die anhaltende Schlaflosigkeit sein. Peter vermutete Schlimmeres. Der Grund lag in seinem Kopf. 

Wenn er zu wenig Dinge hatte, um die er sich kümmern musste, verfiel er schnell in Agonie. Phlegma als Fluch. Er schlief dann zehn, zwölf Stunden, von denen er sicher die Hälfte wach lag, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen aufzustehen. Wozu auch? Die Welt hatte nicht auf ihn gewartet. Alle acht Wochen dann einmal zeitig aufstehen - was ihm dann sehr schwer fiel - beim Arbeitsamt die sauberen Fingernägel vorzeigen und brav nicken und - zuhause dann wieder wacker ins Bett gekrochen. Die Decke über die Ohren gezogen und weiter gehofft, dass auch diese dunkle Phase vorüber ging. Was sie bislang auch immer getan hatte. Zumeist nach einer schlaflosen Nacht, die er mit kreativem Gedaddel (Mixtapes, Bücher, Internet) vertrödelte, war er so voller Energie und neuer Lebensfreude, dass eine Hochphase beginnen konnte. 

Und in den ersten Tagen dieses Hochs wollte er dann immer alles nachholen, was er in den langen Wochen und Monaten versäumt zu haben glaubte. Alles aufarbeiten, was liegen geblieben war. Weil er sich selbst nicht traute, weil er nie wusste, ob diese Phase stabil war und wann die Depression zurückkam. Ob sie nur kurz Brötchen holen oder doch für drei Monate nach Teneriffa geflogen war. Der Pendelverkehr zwischen Hoch und Tief begleitete Peter nun schon sein halbes Leben. Mit 24 hatte er das zum ersten Mal als definitiv nicht normal wahrgenommen, es war die Zeit, als er mit Bettina und Petra zunächst zwei Frauen am Start hatte, nur um kurz danach als Single wieder wach zu werden. 

Er hatte sich mit diesem stetigen Wechsel zwischen  Ups und Downs mittlerweile arrangiert, aber Freunde würden sie wohl nie werden. Wenn er wählen könnte, nähme er natürlich die Ups, wohl wissend, dass er im Dauer-Hochbetrieb pleite gehen, durchdrehen und sterben würde. In dieser Reihenfolge. Es war wie mit dem Schlaf. Ausgewogen hatte er zu sein, wenn er gesund sein sollte. Vielleicht verhielt es sich mit dem Leben ganz genauso?


(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Er wusste genau, wie wichtig gesunder Schlaf für ihn war, wie wichtig für jedes Säugetier. Gefährlich wird es ja immer dann, wenn der natürliche Rhythmus durch äußere Umstände oder den eigenen Lebenswandel so gestört ist, dass ernsthafte Erkrankungen drohen. Nicht umsonst wurden Menschen auf der ganzen Welt mit Neonlicht und ohrenbetäubender Musik mit Schlafentzug gefoltert. Es heißt, wer länger als drei bis vier Tage nicht schläft, würde wahnsinnig. Und wer länger als eine Woche ohne nennenswerten Schlaf verbringt, stürbe. 

Peter war jetzt seit 40 Stunden ohne Schlaf. Seine Augenlider hingen auf halb acht. Er hatte dunkelgraue Ringe unter den Augen. Das linke Augenlid zuckte unablässig. Die Mundwinkel zeigten deutlich nach unten. Er fühlte sich so zerschlagen, dass er davon ausging, dass es kein weiter Schritt mehr für ihn sei, bis Wahnsinn und Tod ihn an der Haltestelle Insomnia-Süd abholten. Und bis zur Endstation fuhren. Wahnsinn? Tod? Schlafes Brüder? Für Peter längst keine furchteinflößenden Vasallen mehr.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


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