Mittwoch, 7. November 2012

Geh mir doch weg XIV: In fremden Federn

Als Peter aufwachte, wusste er nicht, wo er war. Er hatte erwartet, in seinem Bett, in seiner Wohnung, in seinem Haus aufzuwachen. Wie er das eigentlich immer noch jeden Morgen erwartete. Seit nunmehr 40 Tagen. 
(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Egal, ob er in diesem ehemaligen Imkerhäuschen im Wald geschlafen hatte. Oder unter der Autobahnbrücke auf einer versifften Matratze. Als er die Augen heute morgen dann aber endlich öffnete, hatte er heftige Orientierungsschwierigkeiten. Wo war er? Orientierungsschwierigkeiten waren für Peter nix Neues. Die hatte er schon als Kind gehabt. Er konnte sich nicht besonders gut zurechtfinden in der großen Welt. Und hatte einfach keinen guten Orientierungssinn. Er verlief sich oft und gerne. Westen? Osten? Tja, hängt das nicht davon ab, wo man gerade steht? Und ist das nicht ohnehin dasselbe? 

Sein innerer Kompass war irgendwie defekt. Immer schon gewesen. Manchmal guckte er nach links, wenn ihm jemand etwas rechts zeigen wollte. Wenn er dann ungeduldig fragte, wo ist denn jetzt rechts, hatte Peters Vatta immer gesagt: Rechts ist da, wo der Daumen links ist. Fertig. Nix mehr. Kein Fingerzeig, keine Erklärung, nur diese heimliche Feixen, wenn der kleine Peter stirnrunzelnd in der viel zu großen Umgebung stand und immer noch nicht wusste, wo's langging. Leider hatte sich das mit den Orientierungsschwierigkeiten auch im Alter nicht gegeben. Was Wunder, dass Peter einer der Ersten war, der sich ein Navigationssystem zulegte. In den frühen Nuller-Jahren, als die Dinger noch so groß wie ein Kleinwagen und ebenso unkomfortabel wie unzuverlässig waren. Nur mit Karte und Autoatlas bewaffnet, kam Peter selten dort an, wohin er eigentlich wollte. Und noch seltener pünktlich. Konnte auch schon mal daran liegen, dass er geraume Zeit in die entgegengesetzte Richtung fuhr, weil er die Karte falsch rum hielt.


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Es war ein Kreuz. Er war wohl geographischer Legastheniker. Konnte sich mühsam Kirchen, Fußballstadien und Werbeplakate einprägen und sich dann in einer fremden Stadt notdürftig daran orientieren. Hier war ich schon mal, murmelte er dann, wenn klar wurde, dass er mal wieder im Kreis gefahren und dass das Ziel noch lange nicht erreicht war. Heute kam Peter bestens klar. Aber erst seit es die wirklich funktionierenden GPS-Handys mit integriertem Navi gab. Als Onliner ließ er sich alle zwei Jahre von seinem Mobilfunkbetreiber upgraden. Maulte dann vier Wochen rum, das "sei nix für alte Leute" und das "verstehe, wer will, er aber wolle definitv nicht" und dann - schwupps - war er auf einmal ganz kurz still und dann der größte Fan der modernen Technik. 


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Aber heute morgen wusste Peter ums Verrecken nicht, wo er war, als er die Augen aufschlug. Die Bettwäsche roch frisch. Ein sehr flauschiges, angenehm schweres Oberbett, offenbar aus richtigen Daunen, mit Blümchenmuster. Die durchsichtigen Vorhänge waren lindgrün, mit Vertigomuster. Vor dem alten Holzstuhl in der Ecke standen seine schief gelaufenen Wanderstiefel, darauf lagen seine Klamotten. Offenbar hastig ausgezogen. Und ein Top, ein Push-Up-BH und ein Spitzenhöschen. In weiß. Klassisch. Schön. Sexy. In der Ecke sein Rucksack. Vor dem Rucksack die alte Bundeswehrdecke ("Bundeseigentum"), auf der Ische sich wie ein Füchschen eingerollt hatte und schlief. Zu lesen war auf der Decke nur noch "entum". Es roch leicht nach schwarzem Pfeffer. Auf der alten Waschkommode mit Spiegelaufsatz, die dem Bett gegenüber an der Stirnwand stand, glimmte schwach ein Teelicht unter einer Duftlampe. Wo war er? Und was war um Himmels willen passiert? Er wusste noch, dass er Bettina wieder getroffen hatte. Sie lebte immer noch hier. Empfand ihre Unistadt, in der auch ihre Tochter geboren war, längst als Heimat, obwohl sie eigentlich aus dem Pott kam. In den sie aber nie - schon damals in den Achtzigern nicht - zurückwollte. Sie hatten sich getroffen und stundenlang gequatscht. Wie früher. Als hätten sie sich gestern zuletzt gesehen. Dabei war es acht Jahre her, dass sie zuletzt etwas voneinander gehört hatten. 


Ja, sowas gibt's, hatte Peter gestern Abend noch gedacht. Dass man keinen Kontakt hält, sich aus den Augen verliert, nichts mehr voneinander weiß, aber dass trotzdem nichts verloren geht. Weil man sich gar nicht verlieren kann. Weil die Seelen immer noch gleich takten. Da spielen Zeit und Raum dann eine nur noch untergeordnete Rolle. Aber jetzt? Wo war er jetzt? Und wie war er hierher gekommen? Sie hatten die US-Wahlen in einer American-Sports-Bar am See verfolgt, die es damals - als Peter und Bettina noch gemeinsam studierten -  noch gar nicht gegeben hatte. So viel wusste er noch. Und sie hatten dort Tom kennengelernt, der als GI nach Deutschland gekommen und später - der Liebe wegen - einfach geblieben war und diese Bar eröffnet hatte: Toms Diner. Er hatte ihnen immer wieder einen ausgetan, als im Laufe der Nacht klar wurde, dass Barrack Obama wirklich wiedergewählt werden und es die von ihm so erhofften und lautstark skandierten 'Four More Years' geben würde. "Und dann kann er sein Versprechen endlich einlösen und Guantanamo schließen. Ist schließlich schon vier Jahre her, dass er uns das versprach", hatte Tom gesagt, als er mit der nächsten Runde Wodka kam. Muss so gegen halb sechs gewesen sein. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)


Und jetzt lag er hier, hatte geschlafen wie ein Baby und fühlte sich pudelwohl. Als er sich gerade zum dritten Mal fragen wollte, wo er eigentlich war, sprang Ische mit freudigem Jippsen auf und begrüßte - ihn, wie er dachte. Aber die schwarze Hündin  lief grußlos vorbei und blieb schwanzwedelnd vor der Schlafzimmertür sitzen. Als sie sich öffnete, war der Hund dann gar nicht mehr zu halten. Ische warf sich auf den Rücken und wälzte sich von links nach rechts, versuchte nach ihren Hinterläufen zu schnappen und jaulte vergnügt. Ihr Zeichen für "Kraul mich doch am Bauch". Dass Peter eigentlich exklusiv zu haben meinte. 

Sie war gerade aus der Dusche gekommen und trug bis auf ein um die Hüfte gewickeltes Handtuch nur ihr Parfüm, Shalimar, wie früher. Ihr Haar war triefnass und Peter konnte das Vanille-Duschgel bis ins Bett riechen. Bettina kniete sich vor den Hund - was Peter interessante Perspektiven bot - und kraulte Ische den Bauch: "Na, du Süße, hast du auch so gut geschlafen?". Komisch, dachte Peter, ich wollte gerade genau dasselbe fragen.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Was bisher geschah.
Die komplette erste Staffel.
Am Stück, nicht geschnitten.


...und alle Folgen im einzelnen: 










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