Sonntag, 4. November 2012

Geh mir doch weg XIII: Unter Geiseln

Peter rastete aus. Verlor völlig die Beherrschung. "Was glaubt, Ihr eigentlich, wer Ihr seid?", brüllte er einen Tick zu schrill. Wenn sich seine Stimme überschlug, war das kein gutes Zeichen. Für alle Beteiligten. "Und was glaubt Ihr eigentlich, 
(Handy-Foto (c): Thomas Ottensmann)
was Ihr mit Euren Kunden so alles anstellen könnt? Ich bin doch nicht BLÖD!". 

Peter fiel auf, dass er gerade einen Werbespruch zitiert hatte. Den er noch nicht mal originell fand. Genauso wenig wie den Elektronik-Discounter, der dahinter steckte. Aber das Zitat passte. Bestens. In beiden Läden arbeiteten nur noch Verkäufer. Keine Berater. Oder gar Fachkräfte. Gegen modernes Kopfgeld. Provision genannt. Kompetenz gleich null. Stationäre Drückerkolonnen auf Opfersuche. Aber nicht mit ihm! Wenn Peter einmal in Fahrt war und die Cholera-Grenze eingerissen hatte, wurde es unangenehm. Für alle Beteiligten. "Das Einzige, was Ihr hier macht, ist, uns über den Tisch ziehen", schnaubte Peter, dabei deutete er auf die wartende Kundschaft. Eine ältere Dame nickte zögerlich.

"Monatlich möglichst viel Kohle aus den Kunden herauspressen. Ohne Gegenleistung. Gibt es in dieser Bumsbude eigentlich irgendjemanden, der weiß, was er tut und vielleicht sogar noch, warum? Und der Fragen nicht mit einer Gegenfrage beantwortet? Oder ist das hier gar kein Handy-Laden, sondern ein Baumarkt? Da gehört das ja so." Peter hatte extra gewartet bis der Laden brechend voll war. Samstagmorgen, 11.30 Uhr, wenn auch die letzten Penntüten zum Shoppen in der Innenstadt weilten. 


Er hatte nicht damit gerechnet, dass sein niegelnagelneues Handy im dritten Anlauf endlich fehlerfrei funktionieren würde. Und schon mal gar nicht, dass schräge Hotline-Vögel oder gar die zusammengewürfelte Zirkustruppe in dem Laden, der natürlich Shop hieß, eine wie auch immer geartete Idee entwickeln könnte, was jetzt zu tun sei. Er war mit der Ahnung in den Laden gekommen, dass sie das zehn Tage alte Handy, das er für seine Einwilligung in weitere 24 Monate  Geiselhaft in den Klauen eines dahergelaufenen Mobilfunkbetreibers bekam, einschicken würden. Dass dann eine neue Software aufgespielt werden würde, obwohl er das vor fünf Tagen natürlich längst selbst  getan hatte. Und dass damit alle Fotos, alle Kontakte, alle gespeicherten SMS futsch wären. Aber er war nicht gekommen, um sein Handy kampflos abzugeben. Und sich in sein Schicksal zu ergeben. Er war gekommen, um sich aufzuregen.


(Handy-Foto (c): Thomas Ottensmann)

Klar, er konnte mit dem Teil telefonieren. Und ins Internet. Aber SMS verschicken? Pustekuchen. SMS empfangen? Gelächter! Zweimal war er zuvor schon mit Ische in die Stadt gefahren. Seit sie läufig war ein ganz besonders großes Vergnügen. Nach zweimaligem Kartentausch und zweimaligem PIN-Wechsel konnte er jetzt immerhin wieder SMS verschicken. Dumm nur, dass er die Antworten nicht bekam. Da machte die SMS-Flat, die er seit Jahren hatte, so richtig Sinn. Gut, das neue Handy war bestimmt dreimal so schnell wie die alte Gurke, die sich im Web immer so quälen musste. Und ein größeres Display hatte es auch. Und die Sprachqualität? 1a. Aber keine SMS? Inakzeptabel. 


Das war schließlich die einzige Funktion, die er seit Ende der 90er Jahre wirklich nicht mehr missen wollte. Im Prinzip simste Peter gar nicht, er chattete. Das gefiel den Mobilfunkheinis natürlich nicht. Aber wer eine Flatrate für 9,90 Euro anbietet, darf sich nicht beschweren, wenn monatlich schon mal 800 SMS rausgingen. Dafür telefonierte er so gut wie nie. Und wurde auch seltenst angerufen. Und wenn, dann ging er oft erst gar nicht ran. Er mochte nicht in der Öffentlichkeit telefonieren, wollte nicht wie die anderen Schwachmaten durch die Fußgängerzonen laufen, während sie die ganze Zeit in ihre Zauberknochen brüllen. Oder im Bus. Oder bei Aldi am Kühlregal. Oder im Kaufhaus an der Kasse. 


Und er wollte keine Fragen beantworten. Fing ja schon bei der Begrüßungsfloskel an. "Hi, wo biste?". Niemand meldete sich ja heutzutage mehr mit seinem Namen oder sagte irgendetwas belanglos Höfliches zum Einstieg, wie "Oh schön, dass Du anrufst!" oder "Mööönsch, das ist ja eine Überraschung. Gerade noch an Dich gedacht!" Entweder ein kurz gebelltes "Ja?" Oder "Hallo?" Und dann direkt, die moderne Form von "Wie geht's, ich hoffe gut". Auf Handy-Deutsch: "Wo biste?" Das kotzte ihn an. Vielleicht, weil er die Frage schon viel zu oft gehört hatte. Vielleicht, weil er die Antwort nicht kannte. Er wusste ja definitiv nicht, wo er gerade war in seinem Leben. Trotz Google-Maps. Und er wusste auch nicht, warum er da war, wo er gerade war. Er wusste noch nicht mal, wo er stattdessen sein wollte. Er wusste nur eines: Im Moment war er außer sich. Und das war nach langer Zeit endlich mal wieder ein Gefühl, das er ganz ganz deutlich im Bauch spüren konnte.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Was bisher geschah.









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