Mittwoch, 14. November 2012

Geh mir doch weg XVI: Ein halbes Haus


Peter musste laut lachen. Das war unfassbar. Unglaublich. Sen. Satio. Nell. Er hatte sich gerade ein neues Auto gekauft. Er hatte ihn wieder. Seinen geliebten Pumpe-Düse. Nach sechs Jahren Rumgehurke mit diesen beiden sehr alten, sehr kaputten und sehr unzuverlässigen Golf II. 
(Foto(c): Thomas Ottensmann)
Klar, es war 
nicht uncool, mit einem Auto durch die Gegend zu gondeln, dass älter war als viele Fahrerinnen von diesen unzähligen niegelnagelneuen Mini Coopern oder Fiat Cinquecentos. Zudem verschwanden die Golfs der zweiten Baureihe gerade so langsam von der Bildfläche. Was es noch besonderer wirken ließ. 

Aber insgeheim hatte Peter immer seinem Lieblingsauto hinterhergetrauert, das er 2006 - kurz vor dem Sommermärchen - wegen kurzfristiger Liquiditätsprobleme dann doch verkaufen musste, weil er sich die Raten wegen seiner Scheidung in Tateinheit mit Arbeitslosigkeit und kurzfristiger Wohnungslosigkeit einfach nicht mehr leisten konnte. Der Golf IV, 1.9 Liter, TDI. Hach, was für ein Auto. Aber er war 2006 ja schon lange kein Manager mehr. Die Protzkarre muss weg, hatte Bettina mehrfach betont. Und gedrängelt. Und genölt: Du gehst sonst pleite, Wunderlich! 

Er hatte sich ja gerade erst eine Eigentumswohnung gekauft. Die zweite. Die erste war bei seinem finanziellen Touchdown nach der Scheidung hops gegangen. Die Aufhebung der Baufinanzierung hatte ihn fast mit in den Abgrund gerissen. Aber Peter Wunderlich wäre ja nicht Peter Wunderlich, wäre er kein Stehaufmännchen. Hinfallen, ja, liegenbleiben, niemals! Genau genommen hatte er sich 18 Monate nach der Scheidung aber keine Wohnung gekauft, sondern ein halbes Haus. Zusammen mit Bettina. Sie hatte die Wohnung unten gekauft, er die Wohnung oben. Beides schön säuberlich voneinander getrennt. So wohnten sie quasi zusammen, konnten sich aber auch prima aus dem Weg gehen, wenn die Luft mal etwas voluminöser wurde. 

Dass er den Baukredit überhaupt bekommen hatte, war dann aber doch überraschend gewesen. Für alle Beteiligten. Eine Null-Eigenkapital-Finanzierung der örtlichen Sparkasse. Damit hatte er selbst nicht gerechnet. Er hatte sich gerade zum zweiten Mal selbstständig gemacht und sein Kerngeschäft lief noch gar nicht wirklich. Aber sein Konzept, für das er nach der Stütze noch ein halbes Jahr mit EU-Geldern gefördert wurde, las sich spannend. Als hätten alle nur auf Wunderlich gewartet. Als sei die erste Million schon so gut wie im Sack. Jaha, schreiben konnte er! Nur mit dem Umsetzen, da haperte es dann doch des Öfteren. Aber sein Steuerberater und Wirtschaftsprüfer hatte ihm noch eine Art Prognose geschrieben, dass er bestens ausgebildet und erfahren sei, blablabla, dass er was drauf habe, blablabla, und in der Lage sei, die zweite Selbstständigkeit genauso erfolgreich zu gestalten wie die erste sieben Jahre zuvor, blablabla und überhaupt sei er ein netter Typ, an den man einfach mal glauben solle. So in etwa, nur seriös und mit spezifischem Fachchinesisch, mit Geldsprache, angereichert. Das fand die Ansprechpartnerin bei der Bank offenbar überzeugend. Noch viel überzeugender fand sie aber wohl die Aussicht auf ihre Provision für einen 100.000-Euro-Kredit. Zumal es kurz vor Weihnachten 2005 war, als die Papiere endlich unterschrieben wurden. Es mussten ja schließlich ein paar fette Geschenke unter den Baum. 

Peter Wunderlich hatte also wieder ein Zuhause, das ihm ganz allein gehörte. Wo er tun und lassen konnte, was er wollte. Wo er sich nicht mit verpeilten Vermietern und grummeligen Hausmeistern rumärgern musste. Wo er die Wände heute mit schwarzem Hochglanzlack streichen konnte und morgen in Pink, ohne dass einer rummaulte. Wo er im Wohnzimmer Schlagzeug spielen und nachts die Waschmaschine anwerfen konnte oder sich ein Bad einließ, ohne allzu große Nöligkeit der Nachbarn. Nachbarn waren ja jetzt nur noch seine Freundin Bettina und ihre Tochter Marie, die jetzt 16 und damit auch gleichzeitig sein ältestes Patenkind war

Aber nicht zuletzt die Tilgungsraten und die verfluchten Zinsen machten Peter das Leben im ersten Jahr der neuen Selbstständigkeit so schwer, dass er sein Lieblingsauto dann doch verkaufen musste. War natürlich noch nicht abbezahlt, aber mit dem Kaufpreis konnte er die Autofinanzierung ablösen – mit hohem Verlust versteht sich. Egal, nur eine Rate weniger ist eine gute Rate. Und Bettina hatte das zwar gewohnt feinfühlig formuliert („Das Angeberauto muss wech!“), aber nichtsdestoweniger hatte sie ja deshalb nicht ganz Unrecht damit gehabt. Er konnte sich das Auto damals einfach nicht mehr leisten. 

Und jetzt? Freude pur. Peter musste laut lachen. Das war unfassbar. Unglaublich. Sen. Satio. Nell. Er hatte wieder einen TDI. Zwar einen kleineren, sogar den kleinsten aller Volkswagen, aber egal. Der Lupo hatte ihm bei der Probefahrt schon richtig viel Spaß gemacht. Wie damals, bei seinem ersten TDI. Und das neue Auto war im Unterhalt gerade mal halb so teuer wie der 24 Jahre alte Golf II mit seinem ungeregelten Katalysator. Ein 3-Liter-Auto! Das wirklich nur 3 Liter - und manchmal sogar weniger - verbrauchte. Das mit einer Tankfüllung für knapp 50 Euro 1100 Kilometer weit fuhr. Das man notfalls auch mit dem Nobelkraftstoff Brölio aus dem Aldi betreiben konnte. Der Liter zu 1,39 €, was nochmal zehn Cent unter dem derzeitigen Dieselpreis lag. Peter grinste übers ganze Gesicht. Das war unfassbar. Und so vernünftig. Peter war ein kleines bisschen stolz auf sich. Eine klare Kopfentscheidung!

Als er den Wagen voller Ungeduld angemeldet und zugelassen hatte, war er sofort zur ersten längeren Testfahrt aufgebrochen. Das Herbstwetter ließ es noch mal so richtig krachen. Er hatte das Schiebedach geöffnet, seine Sonnenbrille auf der Nase und das Radio volle Pulle aufgedreht. Es lief "Three Little Birds" von Bob Marley. Was für ein herrlicher Tag! Peter hatte dankbar zur Kenntnis genommen, das er zum ersten Mal seit ein paar Jahren sogar wieder einen CD-Player im Auto hatte - und dann noch mit Wechsler. Schönes Extra, quasi das einzige über das der kleine Lupo verfügte. Zentralverriegelung, Servolenkung, abschließbares Handschuhfach? Fehlanzeige. Aber ein gutes Radio mit CD-Wechsler. Großartig. 

Leider hatte er auf der Fahrt zum Straßenverkehrsamt vergessen, eine CD einzustecken. Sonst hätte er jetzt in Brüllstärke Massive Attack hören können. Schade, aber das lief ihm ja nicht weg. Peter drückte gedankenverloren auf den Eject-Knopf des CD-Players, wie um die Musik zu wechseln. Ein Reflex. Eine Übersprungshandlung. Denn zunächst mal musste man ja etwas einwerfen, bevor man etwas raus bekam. Alte Weltspartag-Weisheit. Der lokale Radiosender meinte, nach Bob Marley könne nun auch ein Lambada nicht schaden. Der Ansicht war Peter nun gar nicht. Sommer im Herbst? Limbo im November? 
(Foto(c): Thomas Ottensmann)
Nix da. Alles hat seine Zeit. Peter drückte auf den Eject-Knopf des CD-Players. Und heraus surrte langsam ein Rohling. Per Hand beschriftet. Ein letzter Gruß des Vorbesitzers. Den er offenbar im Schacht vergessen hatte, als er das Auto dem Händler überließ. Peter zog die CD raus, war gespannt, welche Musik darauf war. „Mir geht es gut“, stand auf der CD, „Wege zum positiven Denken“. Peter musste laut lachen. Das war unfassbar. Unglaublich. Sen. Satio. Nell.


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


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