Münster - Es zieht. "Wie Hechtsuppe", hätte mein Vater gesagt. Und: "Mach doch die Tür zu, dann drückt's". Geht aber nicht, denn auf Gleis 9/12 des Hauptbahnhofs in Münster gibt's keine Türen, die man schließen könnte. Auch nicht in dem gläsernen Wartehäuschen im Bereich B. Tag der offenen Tür im Sozialpalast sozusagen. Auf dem Bahnsteig, wo auch die Bahnhofsmission ihr zugiges Asyl gefunden hat und notfalls den gestrandeten Seelen mit Heißgetränken, einem offenen Ohr, einer Stulle und einem Nachtlager ein Übergangs-Zuhause bietet, haben die Kunst-Macher um Erik Biembacher ihre Edition 2010 kreiert. Kunst, Kultur, Musik und Lyrik stehen bei den vier Bahnsteigkonzerten auf dem Fahrplan.
(Video vom Roger-Trash-Konzert: Hacky Wimmer)
Zum Auftakt haben sie einen wahrlich mutigen Termin aus dem Kalender gefischt. Denn die Sommermärchen-Nation hatte schon mal geflaggt, für Lena. Allüberall Grand-Prix-Partys, unzählige beim für die in zehn Tagen in Südafrika beginnende Fußball-WM schon vorbereiteten Public Viewing. Schließlich ist das lange Zeit ungeliebte Stiefkind der Musikinteressierten wieder en vogue. Die Casting-Nation schickt ihre liebste Göre auf den Laufsteg, drückt ihr ein Mikro in die Hand und will Erfolge sehen. Gerade hatte Lovely Lena in Oslo noch ihren zarten 19. Geburtstag gefeiert, dann in der Nacht auf Sonntag den historischen Erdrutsch-Sieg beim größten Musikwettbewerb der Welt. Wir sind also Europameister, wir sind Lena.
(Foto: Hacky Wimmer)
Auch Roger Trash feierte am Samstag seinen Geburtstag. Seinen ersten. Nach schwerer Krankheit, die ihn lange auf die harten Bretter schickte, sitzt der Helgoland-Cowboy jetzt wieder auf dem Gaul, der ihn seit Dekaden treu auf die Bühnen der Republik bringt. Mit seinen bewährten Komplizen Stefan Hasenburg (Keyboard) und Pete Brüning (Schlagwerk) feierte Trash standesgemäß im Sozialpalast, mit einem Konzert. Und alle kamen: 250 Leute, trotz Lena, auf einem zugigen Bahnsteig? Respekt. Als später noch Johann König nach eigenem vollen Haus im H 1 zur Gratulationscour kam, waren es dann kurz vor Mitternacht bestimmt 400. Es wurde ein schöner Abend.
Happy Birthday, alter Helgoland-Cowboy!
Flaschenklimpern, Gelächter, Umarmungen, ein kleines Tänzchen im Wartebereich. Wir sind auf einem der hässlichsten Bahnhöfe des Landes? Nicht möglich. Und unter den wachsamen Augen der Zugbegleiter, Gleisarbeiter, Mülltütenwechsler und Bahnhofsmissionarinnen, die hernach noch mit dem metallenen Klingelbeutel rumgingen, durfte ausnahmsweise auf dem Bahnsteig geraucht, getrunken und gefeiert werden. Die knarzige Mucke aus den vier altmodischen Zwei-Wege-Boxen, die auf die oberen Ecken des Glaskästchens geklebt waren, immer wieder unterbrochen von Lautsprecher-Durchsagen und Bremsenquietschen. Roger Trash macht zwischendurch immer mal wieder Pause, lässt erstmal den ICE nach Basel durch. Oder den sehr langen, laut rumpelnden Güterzug mit Luxuskarossen, der das benachbarte Gleis quert.
(Foto: Hacky Wimmer)
Pausen tun gut. Durchschnaufen, konzentrieren, Kräfte sammeln - ein Gig dauert 90 Minuten. Doch der Durchhalter steht seinen Mann, wenn er auch zumeist nur sitzt. Auf der kargen Holzbank, in Ermangelung eines Barhockers. Doch auch sitzen ist ja eine Haltung, zudem eine dem feinen Midtempo-Set mit Songs der letzten beiden Trash-Alben „ferngeliebt“ und „Liebe & Desaster“ angemessene. Schöner Auftakt für Sozialpalast 2010. Und offenbar beste Rahmenbedingungen für ein kleines Wunder: Der ICE 514 nach Hamburg-Altona über Osnabrück und Bremen kam pünktlich.
(Text aus der Online-Ausgabe der Westfälischen Nachrichten vom 30.Mai 2010: Thomas Ottensmann)
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